„Bis wir tot sind oder frei“ als TV-Premiere bei Arte

Als „Ausbrecherkönig“ wurde Walter Stürm in der Schweiz bekannt. Die anfangs zweckgetriebene Beziehung zu seiner Anwältin Barbara Hug steht im Zentrum von Oliver Rihs‘ Film „Bis wir tot sind oder frei“.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Der Schweizer Kriminelle Walter Stürm (1942-1999) war in den 1980er-Jahren als „Ausbrecherkönig“ und für seine schelmischen Aktionen landesweit bekannt. Das autobiografische Drama erzählt mit Joel Basman in der Hauptrolle davon, wie er über die idealistisch gesinnte Rechtsanwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) zur Galionsfigur der gegen das politische Establishment protestierenden Jugend wurde. Denn sein Aufbegehren gegen die Isolationshaft und die Bedingungen in den Strafanstalten decken sich vermeintlich mit denen der Juristin.

Der Film von Oliver Rihs von 2022 rückt Stürms Wahrnehmung als eine Art Robin Hood zurecht, fiktionalisiert aber zugleich viele Elemente. Geglückt und darstellerisch gelungen ist vor allem die Erzählung um zwei schillernde Außenseiter, deren Karrieren sich gegenseitig fatal befeuern.

Zürich, 1980. Nachdem die Stadtregierung 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligte, für die Forderungen der Jugend nach alternativkulturellen Angeboten aber kein Gehör bewiesen hat, demonstrieren am 30. Mai mehrere Hundert Jugendliche mit Bannern, Farbbeuteln und Eiern vor dem Opernhaus. Die Polizei antwortet mit Gummischrot und Tränengas. Der Opernhauskrawall dauert zwei Tage lang. Er fordert mehrere Hundert Verletzte, verursacht Schäden in Millionenhöhe und markiert den Auftakt einer zweijährigen Phase, in welcher sich Frust und Wut der Schweizer Jugend immer wieder gewalttätig entladen.

Zusammen mit der demonstrierenden Jugend steht auch die Zürcher Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) auf der Straße. Sie ist Mitglied eines Anwaltskollektivs, das sich für die rechtliche Vertretung der Schwachen engagiert. Zur Klientel der Kanzlei gehören insbesondere Menschen, die in Konflikt mit dem Staat geraten sind.

An einem der Tage, an dem in Zürich erneut Demonstranten und Polizei aneinandergeraten, gelingt dem „Ausbrecherkönig“ Walter Stürm (Joel Basman) zum sechsten Mal die Flucht aus der Haft. Als Polizist verkleidet, mit der eigene Strafakte unter den Arm, setzt er sich in ein Polizeiauto und braust mitten im Treiben davon. Wenig später parkt er das Polizeiauto in der Schaufensterauslage eines Juweliergeschäfts. Die Flucht, der Einbruch und der Juwelenraub mitten am Tag zeugen von Stürms Unerschrockenheit und Cleverness.

Während Stürm das Weite sucht, verspricht Hug festgenommenen Demonstranten, sich um sie zu kümmern. Zu ihren Schützlingen gehört auch Heike (Jella Haase), eine junge Deutsche mit Verbindungen zur terroristischen Roten Armee Fraktion (RAF). Bei der Gerichtsverhandlung liefern sich Staatsanwalt Peter Rothenberg (Anatole Taubman) und Hug ein heftiges verbales Gefecht, in dessen Folge Hug zusammenbricht. Barbara Hug (1946-2005) litt zeitlebens an den Folgen eines missglückten medizinischen Eingriffs in der Kindheit. Sie war gehbehindert, auf Schmerzmittel angewiesen und besaß nur eine schlecht funktionierende Niere.

Hugs Krankheitsgeschichte spielt in dem Film von Oliver Rihs keine unwichtige Rolle. Nicht nur, weil sie Marie Leuenberger als Schauspielerin körperlich einiges abverlangt, sondern weil sie Hugs Radius einschränkt.

Es ist Walter Stürm, der sich darauf Hug nähert und ihr seine Akte überlässt. Die Dokumente lassen sich als Diebesgut vor Gericht zwar nicht verwenden, doch sie enthalten Hinweise über die Zustände in Schweizer Strafanstalten, die für Hug von Interesse sind. Die Schriftstücke bringen die Anwältin auf die Idee, Stürm, der durch seine Ausbrüche und seinen Kampf gegen die Isolationshaft seit Jahren in der Öffentlichkeit wahrgenommen und sogar von der Jugendbewegung gefeiert wird, zu ihrem Botschafter zu machen.

Sie übernimmt sein Mandat. Als er sie wenig später um Fluchthilfe bittet, fährt sie mit ihm nach Deutschland, in jene Kommune, in der die inzwischen aus der Schweiz ausgewiesene Heike lebt. Stürm beeindruckt Heikes Wohngenossen mit seinen Safeknacker-Künsten, verspricht ihnen 50 Sturmgewehre für den bewaffneten Widerstand und beginnt mit Heike ein Verhältnis.

Die Geschichte spinnt sich sprunghaft weiter: Stürm landet nach einem Banküberfall wieder in Isolationshaft. Er tritt in den Hungerstreik. Hug setzt sich für ihn ein, bringt ihm Schreibmaschine und Papier. Sie bittet ihn, seine Erinnerungen aufzuschreiben und festzuhalten.

Mit tatkräftiger Unterstützung aus Deutschland kommt Stürm erneut frei. Er setzt sich nach Spanien ab. Hug besucht ihn. Während eines Ausflugs ans Meer scheint die Sonne; für die beiden als Paar scheint alles möglich. Doch Stürm will diese „Scheißfreiheit“ nicht, schon gar nicht geschenkt von Barbara Hug.

„Bis wir tot sind oder frei“ lautet im Film die Überschrift von Stürms autobiografischen Aufzeichnungen, die Hug zu publizieren verspricht. Sie sind in Wirklichkeit nie erschienen, vielleicht auch gar nicht fertig geworden; so genau nimmt es der Film nicht, der mit dokumentarischen Einblendungen beginnt. Ihm liegt die von Reto Kohler verfasste Biografie „Stürm. Das Gesicht des Ausbrecherkönigs“ (2004) zugrunde. „Bis wir tot sind oder frei“ ist temporeich inszeniert und kurzweilig; bisweilen blitzt hinter allem Ernst auch ein lakonisch-leiser Witz auf.

Die Beziehung von Stürm und Hug, im Film wohl um einiges romantischer dargestellt, als sie in Wirklichkeit gewesen sein dürfte, lebt von der schauspielerischen Chemie zwischen Basman und Leuenberger. Während Leuenberger ihrer Figur eine fast schon männlich anmutende Ruppigkeit verpasst, überzeugt Basman durch seine Wandelbarkeit, die der Figur Stürms sehr zugutekommt.

In der Darstellung von Stürm mögen zwar einige Charakterzüge etwas zu kurz kommen; auch hätte man gern mehr über Hugs Beweggründe und ideologische Überzeugung erfahren. Doch das sind Klagen auf hohem Niveau. Denn als Film, in dem sich die Karrieren und Lebenswege zweier Außenseiter, die sich unter „normalen“ Umständen kaum aufeinander eingelassen hätten, unhaltbar ineinander verflechten, ist „Bis wir tot sind oder frei“ durchaus gelungen.