Bildbetrachtung: „Marientod“

Hannes Langbein, Direktor der Berliner Stiftung St. Matthäus, widmet sich dem Bild von Hugo van der Goes, das um 1480 entstand.

Hugo van der Goes, Marientod (Ausschnitt), um 1480, Brügge, Groeningemuseum © Musea Brugge/artinflanders.be
Hugo van der Goes, Marientod (Ausschnitt), um 1480, Brügge, Groeningemuseum © Musea Brugge/artinflanders.beDominique Provost

Der Tod Marias muss für die Weg­gefährten Jesu eine ungeheure Bedeutung gehabt haben: Nach dem ersten großen Abschied von ihrem Sohn am Kreuz, seiner wunder­samen Wiederkehr am Ostertag und dem zweiten großen Abschied am Himmelfahrtstag nun der Abschied von Maria: Mutter Jesu Christi, Zeugin seines Todes am Kreuz.

Die Bibel berichtet dennoch nichts vom Tod der Maria. Erst zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert – es ist die Zeit größer werdender Marienfrömmigkeit – entstehen eine Reihe von Schriften mit dem Titel „Transitus Mariae“ („Übergang Mariens“), die legendenhaft vom Sterben, Auferstehen und der Himmelfahrt Mariens berichten und später für die Ikonographie sakraler Kunst bedeutsam werden sollten: Ein Engel habe Maria über ihren kurz bevorstehenden Tod informiert, diese habe ihren Tod Johannes angekündigt, dieser wiederum den übrigen Aposteln, die kurz danach in Jerusalem erscheinen, um Maria im Sterben zu begleiten. Auch Christus erscheint Maria in einer Vision, begleitet von den himmlischen Heerscharen.

Genau diesen Moment setzte Hugo van der Goes (1435/40–1482), flämischer Meister der Vorreformationszeit, ins Bild: Die sterbende (oder verstorbene?) Maria liegt in leuchtendes Blau gehüllt auf dem Sterbebett, umringt von den zwölf Aposteln, über ihr in einer Glorie der auferstandene Christus, begleitet von Engeln. Marias Augen sind halb geöffnet, die Hände zum Gebet gefaltet, eine Sterbekerze brennt, ein Vorhang öffnet sich auf ein Nebenzimmer hin.

Keiner sieht Maria an

Maria wirkt merkwürdig einsam in diesem Bild. Die Apostel, die teils von weither gekommen sind, um sie in ihrem Sterben zu begleiten, scheinen eher mit sich selbst als mit Maria beschäftigt. Bis auf einen der Apostel sieht keiner Maria an, keiner berührt ihre Hände. Man fühlt sich an die innere und äußere Flucht der Apostel nach dem Tod Jesu erinnert. Zwar sind sie um das Bett der Maria versammelt. Aber ihre Gedanken und Gebete streben aus dem Bild heraus, klammern sich mit ihren Blicken an den Betrachter*innen fest. Das Mienenspiel der Apostel ist sehr bewegt. Es reicht von stiller Ratlosigkeit über tiefe Sorge bis hin zu Anflügen von Panik. Hugo van der Goes ist berühmt für die individuelle Charakterzeichnung seiner Protagonisten.

Immer wieder ist in der seelischen Bewegtheit der Apostel die eigene Lebensangst des Malers gesehen worden: Hugo van der Goes erlitt in den letzten Jahren seines Lebens, in denen das Bild entstand, eine suizidale Psychose: Der Maler habe sich nach Jahren des Erfolgs und seinem Eintritt in ein Kloster verdammt gefühlt und sich das Leben nehmen wollen. Schließlich sei er in geistiger Umnachtung gestorben. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Bild geradezu als Studie unterschiedlichster Stadien der Angst und der geistigen Umnachtung lesen.

Die eigene Seele für den Tod vorbereiten

Wenige Jahrzehnte vor van der Goes‘ Meisterwerk erlangten die illustrierten Schriften der „Ars Moriendi“, der „Kunst des Sterbens“, Bekanntheit, welche die Frage, wie man die eigene Seele möglichst gut für einen seligen Tod vorbereiten könne, beschrieben und verbildlichten. Hugo van der Goes‘ Werk ist wie ein solches Bild vom guten Sterben komponiert. Aber es strahlt keine Ruhe aus. Es zeigt keine Totenrituale, Handlungen im Angesicht des Todes, von denen man lernen könnte. Zu sehen sind vielmehr die Aufgewühltheit und die Ratlosigkeit der Apostel – selbst Marias Gesicht zeigt Spuren der Trauer und der Strapazen des Abschieds. Lässt sich von diesem Bild das rechte Sterben, gar die rechte Sterbebegleitung lernen?

Der Tod macht ratlos. Der Tod Marias umso mehr. Hugo van der Goes setzt diese Ratlosigkeit ins Bild – und schafft zugleich ein Bild des Trostes, das die tiefe Menschlichkeit der Apostel zeigt und die Nachgeborenen im Leben und im Sterben mit ihnen verbindet.

Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus und Kunstbeauftragter der EKBO.

Das Bild „Marientod“ von Hugo van der Goes wird am 26. April um 18.15 Uhr (anders als sonst nicht um 18 Uhr!) im Rahmen der „Christlichen Bildbetrachtungen“ der Stiftung St. Matthäus in der Berliner Gemäldegalerie besprochen. Referenten sind Dagmar Hirschfelder, Direktorin der Gemäldegalerie zu Berlin, und Pfarrer Hannes Langbein, Direktor der Stiftung St. Matthäus. Erstmals nach der Pandemie findet die Christliche Bildbetrachtung wieder in der Gemäldegalerie vor dem Original statt. Der Eintritt ist frei.