„Bevor ich sterbe, möchte ich …“

Auf einer Tafel können Passanten Wünsche aufschreiben, die vor ihrem Tod in Erfüllung gehen sollen. Mit der Aktion auf einem Hamburger Friedhof will Pastorin Sabine Erler vor allem eines: provozieren.

Pastorin Sabine Erler an den Kreidetafeln der Aktion „Before I die“ auf dem Schiffbeker Friedhof
Pastorin Sabine Erler an den Kreidetafeln der Aktion „Before I die“ auf dem Schiffbeker FriedhofCatharina Volkert

Hamburg. Eine kleine Trauergesellschaft folgt einem Sarg auf dem Schiffbeker Friedhof. Sie schreitet an der Kapelle vorbei. Dann streifen die Trauernden zwei Tafeln. Auf denen stehen Satzanfänge: „Bevor ich sterbe, möchte ich …“. „Einfach glücklich sein“ oder „nicht leiden“ haben Friedhofsbesucher dort bereits mit weißer, gelber oder roter Kreide eingetragen.
„Ich möchte den Tod ins Leben holen – und das Leben auf den Friedhof“, sagt Sabine Erler. Sie ist Pastorin für Trauerkultur in der Propstei Wandsbek-Billetal. Deswegen hat sie die Tafeln der Mitmachausstellung „Before I die …“ auf den Friedhof geholt. Ein Kollege hatte sie auf die Aktion aufmerksam gemacht, als die Tafeln auf einem Friedhof in Nürnberg standen.
Das Konzept geht auf die US-amerikanische Künstlerin Candy Shang zurück. Als sie 2011 einen geliebten Menschen verlor, sprühte sie die Worte „Before I die I want to …“ auf feine Schreiblinien auf dem dunklen Hintergrund eines leer stehenden Haus. Sie legte Kreide hinzu – und Passanten begannen, die Wand mit ihren Wünschen zu füllen.

Aktion wandert durch Hamburg

Die Idee ist bis heute in 70 Ländern auf der ganzen Welt übernommen worden. Immer wieder neu entsteht so Kunst im öffentlichen Raum, an der sich unzählige Menschen beteiligen. In Hamburg war die Aktion zum letzten Mal 2014 im Schanzenviertel zu erleben. Sie richtet sich an alle Menschen, unabhängig ihrer Religion oder Weltanschauung.
Nach der Station auf dem Friedhof werden die Tafeln vom 14. bis zum 23. Juni in der Nathan-Söderblom-Kirche, Berliner Platz, von Reinbek aufgestellt. Vom 28. Juni bis 5. Juli stehen sie im Stadtteilhaus Horner Freiheit, am Gojenboom 46, im Vorraum eines vielbesuchten Cafés.
Damit ändern sich die Zielgruppen. Auf dem Friedhof ist das Sterben nahe. In Reinbek ist das anders, dort zieht ein Wochenmarkt die Menschen in die Kirche. Und im Stadtteilhaus sind es AWO und Sprachcafés, die wieder andere Leute zu den Tafeln führen.

Schreiber bleiben anonym

Wünsche an das Leben sind unterschiedlich. Die einen sind konkret – sie lassen sich, wenn möglich, durch Kauf erfüllen. „Einen Kuhstall haben“ schrieb vor zwei Jahren ein Kieler. Und Pastorin Erler wünscht sich Konzertkarten für die britische Musikerin Evelyn Glennie. Andere Wünsche sind Hoffnungen der Schreibenden, etwa ein Lebensende ohne Schmerzen.
Jeder, der schreibt, bleibt anonym. Intime Sorgen können formuliert werden. Zugleich habe die Aktion etwas Leichtes, Spielerisches, meint Pastorin Erler. Jeder kann sich an ihr beteiligen. „Sie zielt mitten ins Leben. Sie lässt Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Rendezvous innehalten und fragen: Was ist mir wirklich wichtig im Leben?“, sagt sie.
Erler hofft auch, dass die Frage in den Köpfen der Vorbeigehenden, die keine Worte hinterlassen, hängen bleibt. „Vielleicht denken sie erst abends darüber nach, dass ihr Leben so kostbar ist.“ Sie möchte durchaus Menschen damit provozieren – oder irritieren. Schließlich irritiere der Tod ja auch.

Tod gehört auch zum Sommer

Nachdenken über das Ende des Lebens, das ist im Kirchenjahr fest im November mit seinem Ewigkeitssonntag verankert – und nicht im Juni und Juli. Pastorin Erler jedoch betont: „Wir leben immer, auch im Sommer, mit dem Tod lieber Menschen.“ Es gehe gerade darum, mit der Endlichkeit zu leben.
Um über das Leben nachzudenken, findet am 22. Juni auch ein „Wunschkonzert“ statt. Unter dem Motto „die Melodie meines Lebens“ können Menschen Liedwünsche einreichen – etwa das Lied, das sie mit ihrer Hochzeit verbinden. Oder die Musik ihrer Jugend. Ab 17 Uhr erklingen die Lebenstöne in der Nathan-Söderblom-Kirche von Reinbek.
Info
Pastorin Sabine Erler nimmt Liedwünsche entgegen unter Telefon 0151 / 70 11 82 31 oder per E-Mail an: pastorin.erler@mail.de. Am Donnerstag, 22. Juni, kommt um 19 Uhr Hospizpastorin Hella Lemke zu Vortrag und Gespräch in die Nathan-Söderblom-Kirche der Kirchengemeinde Reinbek-West, Berliner Platz.