Beten ohne Händefalten

Über den Predigttext zum Sonntag Rogate: Sirach 35,16–22a

Predigttext
16 Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. 17 Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. 18 Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, 19 und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? 20 Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. 21 Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt 22 und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.

Mein Blick geht zum blauen Himmel. Keine Wolke zu sehen. Noch nicht einmal Kondensstreifen. Ich ziehe die FFP2-Maske ab. Draußen darf ich das. Ein paar tiefe Atemzüge, das tut gut. Gehe einige Schritte. Boden unter den Füßen spüren. Dann höre ich das sanfte Rauschen des Flusses, der neben dem Krankenhaus fließt.

Ein beruhigender Strom. Alles fließt. Ich schaue oft auf das Wasser. Lasse mich einen Moment mit ihm treiben, überlasse mich dem lebendigen Wasser. Das macht weit in der Enge der Krankenhausflure.
Meine Gedanken gehen zurück zu der Patientin, die ich zuvor besucht habe.

Menschen, so verwundbar

Ein Gesicht, ein Name, eine Geschichte. So verwundbar. Es hat ihr gut getan, sich etwas von der Seele reden zu können. „Sein Unglück ausatmen können, tief ausatmen können“, sagt der Dichter Erich Fried dazu.

Wie erleichternd kann es für einen Menschen sein, aussprechen zu können, was belastet. Da ist jemand, der hört und versteht. Ein Gegenüber, das mich hält. Aushält. Und wie befreiend, weinen zu können. Vielleicht lange zurückgehaltene Tränen. Das, so sagt Erich Fried, „wäre schon fast wieder Glück“.
Am Ende des Gesprächs haben wir die Hände gefaltet und gebetet.

Aber eigentlich haben wir das die ganze Zeit schon getan. Nur ohne Händefalten.
Für manches, was Menschen erleiden und ihnen widerfährt, gibt es jedoch keine Worte. Alle Buchstaben des Alphabets versagen.

Dann kann ich nur dableiben und mitschweigen. Und innerlich beten die Psalmverse in mir. Und ich versuche dieses zerbrochene Leben Gott hinzuhalten. Aber welchem Gott? Da könnte ich ihn am liebsten durch die Wolken bis auf den Mond schießen! Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?

Vor ein paar Tagen haben meine Kollegin und ich dort auf dem Wasser neben dem Krankenhaus kleine Papierschiffe losgeschickt. Im Segel steckte ein Zettel.

Gott das zerbrochene Leben hinhalten

Darauf notiert habe ich zwei Situationen aus dem vergangenen Jahr, mit denen ich immer noch haderte. Etwas Ungelöstes in mir.
Die Schiffe gehörten zu unserem Gedenkgottesdienst.
Symbolisch haben wir der Verstorbenen des letzten Jahres gedacht.
Wir Seelsorgerinnen waren im Andachtsraum des Krankenhauses. Die Angehörigen zuhause. An vielen Orten zur gleichen Zeit unsichtbar miteinander verbunden. Per Post kam der Gottesdienst zu ihnen nach Hause geschwommen. Und mit ihm auch so ein kleines Papierschiff. Ein Gebetsschiff mit Zettel im Segel. Zum Beschreiben.

So viele Fragen und Seufzer

Und diese vielen Gebetsschiffe sind jetzt überall unterwegs zu den Wolken.
Ihre Fracht wiegt schwer. Es sind die Tränen der Witwe, ist das Flehen der Waisen. Auch die ungesagt gebliebenen Worte, die sie im Angesicht des Todes nicht sprechen konnten. Vielleicht wegen des Besuchsverbots oder der Quarantäne. Der Schmerz darüber, dass sie nicht da sein konnten, die Hand nicht halten konnten.

So viele Fragen. Unaussprechliches Seufzen. So viel Ungelöstes. So viel Vermissen. Ihre Fracht wiegt schwer. Und sie wiegt auch leicht. Von der Liebe, der Dankbarkeit und dem gemeinsamen Glück. Von dem, was bleibt. Das Schwere und das Leichte.

Mein Blick geht jetzt wieder zum blauen Himmel. Noch immer keine Wolke zu sehen. Noch nicht einmal Kondensstreifen. Höre das sanfte Rauschen des Flusses, der neben dem Krankenhaus fließt. Ein beruhigender Strom. Er fließt Tag und Nacht. Beständig. Ich lasse mich einen Moment mit ihm treiben, überlasse mich dem lebendigen Wasser.

Kein Gebet bleibt ungehört

Und dann bin ich gewiss, kein Gebet bleibt ungehört. Es kehrt nicht leer zu uns zurück. Gott selbst ist mein Atem, der Strom, der beständig fließt.
Denn „Wir beginnen unsere Suche nach Gott nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.“ (Dorothee Sölle)