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Berlinale ehrt Regisseur Reitz mit “Berlinale Kamera 2024”

Heimat hat viele Gesichter. Der Filmemacher Edgar Reitz hat seiner eigenen Heimat, dem Hunsrück, eine preisgekrönte Trilogie gewidmet. Jetzt wird er für sein Lebenswerk auf der Berlinale ausgezeichnet.

Heimat ist ein schwieriger Begriff. Für viele ist sie der Ort, an dem sie aufgewachsen sind oder an dem sie sich aufgehoben fühlen. Lange galt Heimat aber auch als etwas Spießiges, Kitschiges:

Einer, der sich mit dem Begriff sehr schwer tat, ist Edgar Reitz (91). Der aus Morbach im Hunsrück stammende Autor und Regisseur hat sich der Heimat zwischen 1984 und 2004 mit seinem gleichnamigen monumentalen Filmprojekt poetisch angenähert – und mit seinen Geschichten vom Weggehen und Zurückkommen alles andere als eine heile Welt präsentiert.

Am Donnerstag wird der Sohn eines Uhrmachers – seine erste Erinnerung ist die filigran arbeitende Hand seines Vaters – bei den Berliner Filmfestspielen mit der “Berlinale Kamera 2024” ausgezeichnet.

Mit seiner mehr als 60 Stunden umfassenden Saga über den fiktiven Ort Schabbach im Hunsrück entwarf Reitz seit Anfang der 80er Jahre eine über mehr als sechs Jahrzehnte (1919-1982) reichende deutsche Chronik. Ein Mammutwerk, das international für Aufsehen sorgte und ihn zu einem der bekanntesten deutschen Kinoautoren machte.

Seine Erzählkunst führt der Regisseur auch auf seinen Großvater und die Tradition des Hunsrück zurück. In den Dörfern dort sei es gang und gäbe gewesen, sich “Stickelcher zu verzählen” – kleine, abgeschlossene Geschichten aus der ländlichen Erfahrungswelt, Erzählungen über Leben und Tod, berichtete Reitz.

Schabbach ließ Reitz auch später nicht los: Ab 2011 arbeitete er am Spielfilm “Die andere Heimat”, der die Auswandererwelle aus dem Hunsrück nach Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts thematisierte. Die “Chronik einer Sehnsucht” kam 2013 in die Kinos.

Reitz sieht die Auseinandersetzung mit der Heimat nicht als harmlose Beschäftigung an. Für ihn sei das Thema “ein großes Fragezeichen geworden”, sagte er. Vielen Menschen gehe es um Zugehörigkeit. Deswegen sei “eine gewisse Irritation gegenüber allem Fremden zunächst einmal ganz normal und natürlich”. Was der Mensch an Mitmenschlichkeit, Zusammenarbeit und Toleranz kenne, müsse er lernen.

“Heimat ist nichts, was man besitzen und festhalten kann”, sagte er im “Zeit”-Interview”: “Es hat ein Element der Sehnsucht und der Trauer, des Verlorenen. Und deswegen gibt es Heimat in Erzählungen als etwas, was Bestand hat. Heimat kann uns trösten oder begleiten. Aber die wirkliche, die reale Heimat verliert man immer.”

Der Heimat-Experte hat seinen eigenen Geburtsort Morbach schon nach dem Abitur verlassen – aus Fernweh, dem sich dann auch das Heimweh zugesellte. Seit den 1950er Jahren lebt er – mit berufsbedingten Unterbrechungen – in seiner Wahlheimat München. Dort wollte er eigentlich Elektrotechnik studieren. Gelandet ist Reitz bei Theaterwissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik – und bei der Arbeit an der Kamera. Erste eigene Kurzfilme entstanden ab 1958.

Als Mitinitiator des Oberhausener Manifests (“Papas Kino ist tot”) sprach er sich 1962 für die Schaffung eines “neuen deutschen Spielfilms” aus. Im selben Jahr gründete er mit Alexander Kluge die Abteilung Film an der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Dort lehrte er Regie und Kameratheorie und trug wesentlich dazu bei, das Konzept des Autorenfilms populär zu machen. 1966 folgte sein erster eigener Spielfilm “Mahlzeiten”, der 1967 bei den Filmfestspielen von Venedig als bester Debütfilm ausgezeichnet wurde.

Der aufwendig produzierte Film “Der Schneider von Ulm” (1978), der den sozialen Absturz des Ulmer Flugpioniers Berblinger nacherzählt, wurde für Reitz – dank eines Verrisses im “Spiegel” – zur Bruchlandung.

Auch im hohen Alter arbeitet Reitz weiter. Pünktlich zum 90. Geburtstag hat er im vergangenen Jahr seine Lebenserinnerungen unter dem Titel “Filmwelt, Lebenszeit” veröffentlicht. Und auf der Berlinale wird sein neuester Dokumentarfilm “Filmstunde 23” gezeigt. Er knüpft an Reitz Anfangsjahre als Filmemacher an: 1968 hatte er das Filmemachen an einer Mädchenschule in München unterrichtet und die Schülerinnen aufgefordert, kurze Super-8-Filme zu drehen. Dieses Material, erst 2023 wiederentdeckt, hat Reitz zu einem neuen Werk zusammengeschnitten – eine Liebeserklärung an das Filmemachen und die Möglichkeiten der Filmkunst.