Beim Goalball sind alle Spieler gleich

Mit 14 Jahren erblindete der Rostocker Reno Tiede. Besonders setzte dem fußballbegeisterten Jungen zu, dass es mit seinem Sport vorbei sein würde. Dann entdeckte er Goalball.

Reno Tiede in Aktion beim Goalball
Reno Tiede in Aktion beim GoalballJensch Scholz / epd

Rostock. Es herrscht völlige Dunkelheit. Wenn Reno Tiede auf dem Spielfeld steht, kann er nichts sehen. Nur das Klingeln signalisiert, dass der Ball mit fast 100 Stundenkilometern angerauscht kommt. Tiede reagiert blitzschnell, dreht sich einmal um die eigene Achse, bevor er den Ball Richtung Tor drischt. Der 26-Jährige ist Kapitän der deutschen Goalball-Nationalmannschaft und treibt den Ausbau der Blinden-Sportart in Deutschland voran.
Seit er 14 ist, lebt der gebürtige Rostocker mit einer Sehkraft von einem Prozent. Als fußballverrückter Junge bekam er die Nachricht, dass sein Augenlicht schwinden würde. "Ich habe mich schnell daran gewöhnt", sagt Tiede. "Man sieht, was man eben sieht. Aber ich war immer ein ballverliebtes Kind, und Fußballspielen ging dann natürlich nicht mehr." Durch seine Eltern kam Tiede dann zum Goalball. Später hat er mit dem RGC Hansa eine eigene Mannschaft in Rostock gegründet und 2012 die deutsche Goalball-Bundesliga aufgebaut. Die Sportart ist zu seinem Lebensmittelpunkt geworden.

Zuschauer-Jubel verboten

Beim Goalball stehen sich zwei Teams mit jeweils drei Feldspielern gegenüber. Nicht alle sind blind, aber alle tragen schwarze Brillen, damit auch wirklich niemand etwas sehen kann. Ziel des Spiels ist es, mit der Hand, dem Kopf oder dem Fuß möglichst viele Tore zu erzielen. Vorher muss der Ball den Boden allerdings zweimal berühren. Denn beim direkten Wurf würden die Glocken im Inneren des großen Balls kaum Geräusche machen. Die Spieler dürfen sich nur in der Team-Zone direkt vor dem eigenen Tor aufhalten und sind deshalb Angreifer und Verteidiger zugleich. Damit die Mannschaften sich auf das Klingeln des Balles konzentrieren können, dürfen die Zuschauer in der Halle nur bei einem Tor und am Ende des Spiels jubeln.
Goalball, ursprünglich als Rehabilitationshilfe für Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erfunden, ist seit 1976 auch Teil der Paralympischen Spiele. Es entwickelt sich immer mehr zum Zuschauermagnet. Bei den Wettkämpfen in Rio de Janeiro in diesem Sommer trat die deutsche Nationalmannschaft um Kapitän Tiede in der Future Arena auf, in der auch die olympischen Handball-Spiele ausgetragen wurden. Die Goalballer spielten vor gefüllten Rängen mit rund 12.000 Zuschauern. Bei den diesjährigen Paralympics wurde das deutsche Team Fünfter. Die Mannschaft aus Litauen sicherte sich die Goldmedaille.
Einerseits liebt Tiede den Rausch des Wettkampfs, die Atmosphäre der riesigen Sport-Events. "Mit den Paralympics in Rio ist ein großer Traum in Erfüllung gegangen. Die Begeisterung der Brasilianer: einzigartig!", erzählt der 26-Jährige. Andererseits sieht er im Goalball aber auch noch andere Möglichkeiten als Medaillen.

Ängste abbauen

Während die Regeln auf internationaler Ebene nur Spieler mit höchstens zehn Prozent Sehkraft zulassen, dürfen auf nationaler Ebene auch Menschen ohne Sehbehinderung Goalball spielen. "Auf dem Feld sind alle gleich. Da spielt man eben zusammen und merkt kaum einen Unterschied. Blind zu spielen, ist einfach Trainingssache", sagt Tiede. Deshalb sieht er im Sport auch Chancen für ein selbstverständlicheres Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Behinderung.
"Das muss im Kopf anfangen", sagt er. "Und Sport kann da ein ganz entscheidender Schlüssel sein, weil Hemmungen und Ängste im Umgang miteinander überhaupt keine Rolle mehr spielen." In seinem Joballtag als Vermögensberater seien die Leute ihm gegenüber manchmal irritiert oder verunsichert. Tiedes rechtes Auge fixiert seinen Gegenüber nicht richtig, sondern richtet sich in eine etwas andere Richtung. "Ich mache dann oft ein, zwei Späße darüber, und dann ist es kein Thema mehr", erzählt er.
Zu einem gelungenen Zusammenleben zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen sagt Tiede: "Wenn wir alle nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie wir uns dem anderen gegenüber verhalten, sind wir angekommen." Dafür sei aber noch einiges an Aufklärung und Umdenken auf beiden Seiten nötig – und vielleicht ein bisschen Goalball. (epd)