Familie Hermann: “Bei Charlie Chaplin sehen wir mehr als Hörende”

“Unser Alltag ist ganz normal”, sagt Christian Hermann. Vier von fünf Mitgliedern der Familie sind gehörlos. Ein Tag bei den Hermanns zeigt leuchtende Hilfsmittel, kleine Probleme – und großen Humor.

Vier von fünf Familienmitglieder der Hermanns sind gehörlos
Vier von fünf Familienmitglieder der Hermanns sind gehörlosepd-bild/Peter Dietrich

Das Poster mit dem deutschen Fingeralphabet hängt bei Familie Hermann am Kühlschrank, gleich unter den unzähligen Reisemagneten. Doch keiner braucht es. Die ganze Familie aus Remshalden-Grunbach bei Stuttgart tauscht sich am Frühstückstisch sehr routiniert per Deutscher Gebärdensprache aus. Auch die jüngste Tochter Mira, acht Jahre alt, die bilingual aufwächst: Sie kann als einziges Familienmitglied hören.

Bei Mutter Nikolett, 41 Jahre alt, ist die Gehörlosigkeit erblich bedingt, sie ist gehörlos in vierter Generation. Nacheinander zeigt sie auf den unzähligen Familienfotos an der Wohnzimmerwand auf etwa 20 Leute aus ihrer Herkunftsfamilie: „In meiner Familie hört keiner“, gebärdet sie, eine Dolmetscherin übersetzt.

Nur Tochter Mira kann hören

Auch ihre Tochter Zara (19) und ihr Sohn Leo (16) kamen gehörlos auf die Welt. Als ihre Tochter Mira hören konnte, war das eine Überraschung. Der Gedanke, eine Hörende in der Familie zu haben, war ganz neu. „Ich habe lange gebraucht, bis ich es akzeptiert habe.“

Das Sprechen habe sie von ihrer Oma gelernt, sagt die aufgeweckte Mira. Das bedeutet aber nicht, dass sie nun für die Familie Dolmetscherdienste übernehmen muss. „Auf gar keinen Fall, das ist nicht ihre Aufgabe“, erklärt die Mama. „Es gibt keine Mehraufgaben, sie ist in erster Linie unser Kind“, ergänzt der Papa Christian (45). Allenfalls weise Mira die anderen mal darauf hin, wenn es irgendwo „voll laut“ sei.

Anders als seine Frau ist Christian in seiner Herkunftsfamilie ein Einzelfall, die anderen sind Hörende. Christian und Nikolett sind froh, dass sie einander haben. Ein Partner, dem sie die Gebärdensprache erst richtig beibringen müsste, wäre für sie undenkbar, erklärt Nikolett. Die beiden kommunizieren in sehr flottem Tempo.

Etwa 80.000 Gehörlosen leben in Deutschland

Der Deutsche Gehörlosen-Bund geht von etwa 80.000 Gehörlosen in Deutschland aus, rund 0,1 Prozent der Bevölkerung. Das Statistische Bundesamt verzeichnet knapp 31.500 Menschen mit Taubheit und zusätzlich fast 21.000 Menschen mit „Taubheit kombiniert mit Störungen der Sprachentwicklung und entsprechenden Störungen der geistigen Entwicklung“ (Stand Ende 2023).

Der Tag der Familie Hermann beginnt mit grellen Blitzen: Sie kommen vom großen Spezialwecker für Gehörlose. Es gibt auch eine Reiseversion davon, aber der Antrag dafür wurde abgelehnt. Andere Hilfsmittel wurden genehmigt: Ein Lichtsignalstecker zeigt an, wenn jemand klingelt, auch ein Alarm des Rauchmelders würde optisch umgesetzt.

Beim Seriengucken auf dem großen Bildschirm nutzt die Familie Untertitel, aber auch der Ton läuft mit – Mira wäre nach der zweiten Klasse mit dem Lesetempo teils noch überfordert. Im Kino gibt es Originalfassungen mit deutschen Untertiteln, für manche Filme liefert eine Smartphone-App die Texte.

Für Telefonate gibt es zwei Verfahren: Mit Freunden wird per Gebärdensprache und Smartphone kommuniziert. Für andere Anrufe gibt es mit „Tess“ einen Online-Dolmetscherdienst. Nikolett führt ihn vor: Nach einer kurzen Wartezeit schaltet sich auf dem Tablet eine Gebärdendolmetscherin online dazwischen.

Neue Techniken helfen im Alltag

Neue Techniken wie diese sind ein großer Fortschritt. „Früher hatten wir Gehörlose immer hohe SMS-Rechnungen, das konnten 500 bis 1.000 Deutsche Mark sein“, erinnert sich Christian. Einen Gebärdendolmetscher live und vor Ort, etwa für einen Arztbesuch, muss die Familie Wochen im Voraus buchen, spontan geht da gar nichts. Ein KI-Avatar als brauchbarer Gebärdendolmetscher steht noch aus.

Dass Christian gehörlos ist, fiel einer Tante auf, als er etwa ein Jahr alt war und auf Türenknallen oder das Läuten vom Nikolaus nicht reagierte. Für die Eltern war das ein Schock. In der Schule lag manches im Argen. Obwohl seine Realschule eine Gehörlosenschule war, konnten viele Lehrkräfte nur minimal gebärden, wie er berichtet. Als Nikolett mit fünf Jahren von Ungarn nach Deutschland kam, konnte sie auf Ungarisch gebärden – und musste die Deutsche Gebärdensprache erst neu lernen.

Seit 2013 arbeitet sie als Kassiererin in einem großen Bekleidungsgeschäft in Stuttgart. Das gehe sehr gut, erzählt sie. „Die Kunden sprechen langsamer, nehmen Zettel und Stift oder zeigen auf ein Schildchen.“ Nur als die Menschen zur Zeit der Corona-Pandemie einen Mundschutz trugen, sei das eine sehr kritische Zeit gewesen, denn das Mundbild sei für ihr Verstehen wichtig.

Ihr Mann unterrichtet bei der Paulinenpflege in Winnenden Gebärdensprache und Gehörlosenkultur. Auch an der Universität Stuttgart und der Hochschule Esslingen hat er Honoraraufträge für Gebärdensprache. Für Gehörlose ist er als Lehrer ein Vorbild. „Und Hörende staunen, dass das geht.“

 

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„Unser Alltag ist ganz normal“, so beschreibt es Christian. „Wir sind es nicht anders gewohnt“, ergänzt Nikolett. Aber manche Situation haben es dennoch in sich. Am Bahnhof seien sie auf andere angewiesen, wenn sie Lautsprecherdurchsagen nicht hörten. „Wir bekommen weniger mit.“ Wer helfen wolle, solle nicht zögern, einem Gehörlosen an die Schulter zu tippen. Sie sehen aber auch Vorteile: „Nachts können wir ganz toll schlafen, und bei Charlie Chaplin und Pantomime sehen wir als visuelle Menschen mehr als Hörende“, sagt Nikolett.

Der humorvolle Instagram-Kanal der beiden, „hermyswelt“, hat fast 4.000 Follower. Wenn es die Zeit erlaubt, produzieren die beiden dort auch Untertitel. Die Gehörenlosen-Community sei eine eigene Welt, erklären beide. Was sie sich von den Hörenden wünschen, da müssen sie nicht lange überlegen: „Dass alle die Gebärdensprache lernen!“