Bedrängte Minderheiten im Irak

Im Irak leben viele verfolgte Jesiden in Flüchtlingsunterkünften. Markus Dröge, ehemaliger Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, reiste in das Land.

Bischof Nicodemus mit einer wertvollen Handschrift
Bischof Nicodemus mit einer wertvollen HandschriftMarkus Dröge

Als wir Bischof Nicodemus in Erbil besucht haben, erzählte er uns von seiner Flucht aus Mossul im Jahr 2014. Er war einer der letzten Christen, die die Stadt verlassen haben, als die Kämpfer des Isis, des islamischen Staates, nur noch knapp 300 Meter entfernt waren. Die wertvollsten Handschriften seiner Kirche nahm er mit, schon lange hatte er sie in einer Kiste neben seinem Bett aufbewahrt, jederzeit zur Flucht bereit. Was er nicht mitnehmen konnte, wurde zerstört. Ob wir eine Handschrift sehen könnten? Es dauerte eine Weile bis er ein Buch aus dem 9. Jahrhundert aus dem Tresor geholt hatte. Dann konnten wir mit ihm gemeinsam in den prächtig gestalteten Seiten blättern.

Bischof Nicodemus ist zuständig für die syrisch-orthodoxen Gemeinden in Mossul, Kirkuk und der ­gesamten Region Kurdistan. Aus der Ninive-Ebene sind 200000 Christinnen und Christen vor den Isis-­Kriegern geflohen. Heute sind die Islamisten besiegt. Oder besser: Sie gelten als besiegt. Denn viele der grausamen Kämpfer, vielfach ­ehemalige Militärangehörige des Saddam Hussein-Regimes, die ­gemordet, vergewaltigt, versklavt haben, leben weiter in den Städten und Orten der Ninive-Ebene. „Sie haben nur ihre Bärte abgeschnitten“, erzählt man uns. „Aber sie sind noch da, sie haben ihr Denken und ihre Haltung nicht verändert.“ Konsequent strafrechtlich verfolgt werden sie im Irak für ihre Untaten nicht. Und so ist es kein Wunder, dass nur fünf bis zehn Prozent der Christen bisher die Rückkehr in ­ihre Heimatorte gewagt haben. Die latente Angst bleibt.

Die Repressalien begannen schon vor der Herrschaft des IS-Terrors

Die Bedrängung der Minderheiten im Irak, neben den Christen vor ­allem die Jesiden, begann aber nicht erst 2014. Seit den 1980er Jahren ­erstarkte das nationalistische und islamisch-fundamentalistische Denken und die Auswanderung begann. Die traurige, aktuelle Bilanz: 2003 gab es im Irak noch 1,5 Millionen Christen, jetzt sind es höchstens noch 250.000.

Die Reise des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg (ÖRBB), die vom 14. bis 23. März stattfand, ging vor allem in die Kurdische Provinz, aber auch in die Ninive-Ebene und in das Bergland. Sie war schon lange ­geplant, dann aber durch Corona verhindert. Wir waren zwölf Personen unter Leitung von Monsignore Hansjörg Günther vom Erzbistum Berlin, dem aktuellen Vorsitzenden des ÖRBB. Bunt war die Mischung der Gruppe. Zum Beispiel ein Religionswissenschaftler der Univer­sität Potsdam; ein engagiertes Mitglied der syrisch-orthodoxen Gemeinde Berlin; ein Fachmann für die jesidische Religion, selbst Jeside; eine Fachjournalistin; ein Beauftragter für die Religionsfreiheit im Irak, der in der deutschen Politik für Unterstützung wirbt.

Wir hatten wie aktuell kaum ­jemand die Gelegenheit das Land kennenzulernen, denn zurzeit gibt es keine politischen Korrespondenten im Irak und auch die politischen Stiftungen sind noch nicht wieder präsent. Etwa dreißig Gesprächspartner konnten wir treffen: ­Bischöfe der verschiedenen orientalischen Konfessionen, Gemeindeglieder, junge Frauen, die uns von ihren erschütternden Erfahrungen zur Isis-Zeit erzählten, aber auch Studierende an der Katho­lischen Universität Erbil, die uns ­begeistert von ihrer Lebensplanung berichteten: Sie wollen ihre Heimat wieder aufbauen und helfen, ihr ­eine ­Zukunft zu geben.

Jesiden ohne Hoffnung

Wir haben ein Lager für jesidische Binnenflüchtlinge besucht, von denen es bis heute noch 300000 im Land gibt. Seit nun fast neun Jahren leben sie ohne Hoffnung, weil der irakische Staat sein Versprechen, ihnen zu helfen, bis heute nicht umgesetzt hat. Wir wurden im Zentralheiligtum der Jesiden, in Lalish, von der höchsten Repräsentantin der Jesiden empfangen – einer fein­sinnigen Frau, deren Friedfertigkeit und Menschenliebe, trotz der grausamen Verfolgungsgeschichte ihres Volkes, uns nachhaltig beeindruckt hat.

Wir haben die Zentrale des christlichen Hilfswerkes CAPNI in Dohuk besucht, das seit 1992 eine eindrucksvolle Arbeit betreibt, um zu verhindern, dass immer mehr Christinnen und Christen das Land verlassen. Zum Abschluss der Reise hatten wir dann auch noch die ­Gelegenheit, unsere Eindrücke und die Rolle der deutschen Politik mit Generalkonsul Sven Mossler zu ­diskutieren.

Zwischen den Staaten zerrieben – das trifft vor allem die Minderheiten

Ob die Minderheiten im Irak eine Zukunft haben werden? Das wird wesentlich davon abhängen, wie der internationale Kampf der ­politischen Kräfte sich weiter­entwickelt. Der Irak steht in der ­Gefahr von den Nachbarmächten zerrieben zu werden. Und die ­Minderheiten trifft es am härtesten. Syrien, die Türkei und der Iran versuchen, ihren Einfluss im Land stark zu machen.

Zu 85 Prozent, so haben wir es immer wieder gehört, sei das Land vom Iran beeinflusst: Gelder fließen an die schiitischen Milizen und die ­politischen Gruppierungen. Ziel sei es, den Irak zu einem Gottesstaat iranischer Prägung zu machen. Christen und Jesiden stören da nur. Und doch sind gerade sie die ältesten Bewohner am Euphrat und Tigris. Im christlichen Museum in Erbil haben wir entdeckt: Bereits im Jahr 104 nach Christus gab es den ersten christliche Bischof in Erbil. Und die jesidische Religion, deren Wesenskern die ethische Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit ist, ist älter als das Judentum und das Christentum.

Bischof Najeeb Michael, der chaldäische Erzbischof von Mossul, den wir in Qaraqosh sprechen konnten, hat voller Ehrfurcht über das ­Jesidentum gesprochen. Über den jesidischen Einfluss auf die monotheistischen Religionen hat er ­promoviert. Das Land ist vielfältig, war es immer schon, mit unterschiedlichen Ethnien, Religionen, Kulturen. Und nun steht all dies in der Gefahr, endgültig zerstört zu werden durch die Wahnvorstellung, ein Staat müsse ethnisch und religiös einheitlich sein – eine Vorstellung, die sich leider weltweit wie ein Krebsgeschwür ausbreitet.

Zerbombte Kirchen werden wieder aufgebaut

Was seine Hoffnung für sein Land sei, haben wir Bischof Najeeb Michael, gefragt. Seine Antwort: der Glaube an Jesus Christus und die Liebe der Christen zu ihrer Heimat. Er glaube an die Zukunft der Christen im Land.

Ansätze der Hoffnung haben wir auch selbst entdeckt: Wir haben ­erfahren, dass besonders die Regierung der Provinz Kurdistan sich ernsthaft bemüht, die Minder­heiten zu schützen und die Vielfalt zu bewahren. Wir haben die mutige Beauftragte für ethnische und religiöse Minderheiten des Präsidenten der kurdischen Provinz, Florin ­Gorgis, kennengelernt.

Wir haben die immense Aufbauarbeit gesehen, die seit der Vertreibung des Isis schon geleistet worden ist: zerbombte Kirchen werden aufgebaut, die Katholische Universität in Erbil hat einen Neubau bekommen. Wir haben in Qaraqosh im frisch renovierten Gästehaus der christlichen Gemeinde übernachtet. Zur Isis-Zeit hatte der Islamische Staat dort eine Zentrale, und unsere Gästezimmer waren Gefängniszellen für jesidische Frauen.

Was können wir tun?

Die brennende Frage, was wir denn tun können, um zu helfen, hat uns bei der Reise auf Schritt und Tritt begleitet. Wir können die ­Situation der Minderheiten im Irak hier bei uns bewusst machen. Wir können bei unseren Politikern vorstellig werden und einfordern, dass die deutsche Außenpolitik jeden Einfluss nutzt, um die Vielfalt im Irak zu erhalten und die Minder­heiten zu schützen. Wir können konkrete Unterstützungsmöglichkeiten wie das Hilfswerk CAPRI bekannt machen. Der Arbeitskreis des ÖRBB wird die Reise intensiv auf­arbeiten und versuchen, sich in ­diesem Sinne zu engagieren.