Artikel teilen:

Bedingt rettungsbereit

Käme es zu einem Krieg mit Russland, könnten dem Katastrophenschutz in Deutschland ehrenamtliche Helferinnen und Helfer fehlen. Genaue Zahlen, wie viele Freiwillige im Ernstfall tatsächlich einsetzbar wären, gibt es nicht. Der Krisenmanager Albrecht Broemme sagt, er könne sie nur vage schätzen: „Wenn man an einem Tag X zur Stunde Y alle Fahrzeuge der Blaulichtorganisationen besetzen wollen würde, dann vermute ich, dass ein Drittel aller Fahrzeuge ohne Besatzung bliebe.“

Broemme ist Vorstandsvorsitzender des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, er war bis 2019 Präsident des Technischen Hilfswerks (THW), davor Chef der Berliner Feuerwehr. In einem Krieg mit Russland dürften seinen Worten zufolge auf Deutschland Marschflugkörper und ballistische Raketen niedergehen. Oder Drohnen „mit Sprengladungen, die in Häuser fliegen und große Zerstörungen verursachen“, sagt er.

In einem Krieg bräuchte Deutschland also einen leistungsfähigen Katastrophenschutz, der Brände unter Kontrolle bringen, Verletzte retten und Tote bergen könnte. Benötigt würden möglichst viele Helferinnen und Helfer. „Ein Gegner wird ja nicht nur abgeschreckt von der Zahl der Panzer, sondern von der Resilienz eines Staats insgesamt“, erklärt Broemme.

Im April veröffentlichte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eine Studie, wonach sich in Deutschland derzeit rund 1,76 Millionen Freiwillige im Zivil- und Katastrophenschutz engagieren – gut drei Viertel von ihnen in Freiwilligen Feuerwehren, ein starkes Fünftel bei Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz, der Rest bei anderen Vereinen oder dem THW.

Allerdings: Im sogenannten Blaulichtmilieu ist es nicht selten, dass Menschen sich mehrfach engagieren, also etwa für die Feuerwehr und das Rote Kreuz zugleich. Zwar berücksichtigt die Studie das. Die Datengrundlage, die sie verwendet, erfasst aber lediglich die ehrenamtliche Tätigkeit mit dem höchsten zeitlichen Aufwand. Engagements bei mehreren Vereinen oder Organisationen werden so herausgerechnet. Demnach stünden im Ernstfall nur 1,1 Millionen Helferinnen und Helfer bereit.

Doch die tatsächliche Zahl liegt wohl noch niedriger. Denn Hilfsorganisationen unterhalten oft mehrere Hilfsstrukturen: den professionellen, hauptamtlichen Rettungsdienst, ehrenamtliche Komponenten, die den Rettungsdienst in Zeiten großer Einsatzbelastung unterstützen, ehrenamtliche Helfer-vor-Ort-Systeme, die die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdiensts überbrücken, und die Katastrophenschutz-Einheiten. Auch hier sind Mehrfachtätigkeiten nicht selten. Im Ernstfall ist jeder aber nur an einer Position einsetzbar.

Manche Kreis- oder Regionalverbände von Hilfsorganisationen fördern diese Mehrfachtätigkeiten oder sehen sie zumindest nicht ungern. Bei Ausschreibungen für Wachen des hauptamtlichen Rettungsdiensts kann es nämlich Wettbewerbsvorteile bringen, die Zahl der Ehrenamtlichen auf dem Papier aufzublähen.

Klaus Runggaldier, Dekan der Fakultät Gesundheitswissenschaften der Medical School Hamburg, erklärt, Hilfsorganisationen argumentierten oft, dass ohne Rettungsdienst das Ehrenamt im Katastrophenschutz nicht trainiert werden könne. „Auch wenn das nicht stimmt, werden wegen dieser Drohszenarien rettungsdienstliche Leistungen teilweise gar nicht ausgeschrieben und bestehende Verträge immer wieder stillschweigend verlängert.“ Oder Ausschreibungen würden so gestaltet, dass Hilfsorganisationen vor anderen Leistungserbringern bevorzugt werden.

Selbst ihr hauptamtliches Personal zählen manche Rettungsdienste nach Runggaldiers Worten gar zum Ehrenamt dazu. „Eine gängige Praxis, gerade bei den Hilfsorganisationen, ist es, dass hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rettungsdienst zusätzlich einen Vertrag im Bereich des Katastrophenschutzes erhalten“, erklärt er. Dabei seien diese Personen im Hauptamt über eine gemeinnützige GmbH angestellt, während das Ehrenamt über einen Verein laufe.

Eine „gleichzeitige, unangekündigte Alarmierung aller Einsatzeinheiten, also des gesamten Bevölkerungsschutzes eines Bereichs“, wäre nach den Worten Runggaldiers eine Möglichkeit, die genauen Zahlen der Ehrenamtlichen in Erfahrung zu bringen, wenn auch eine radikale. Optimal, sagt er, wäre es, ein zentrales Registrierungssystem einzuführen, „das Informationen wie Name, Qualifikation und Arbeitgeber erfasst und Mehrfachzählungen effektiv identifiziert“. Für die Bundeswehr-Reserve gebe es ein solches System bereits.