Aufräumen – auch in der Seele

Der Frühling scheint dazu prädestiniert, dass Menschen sich von unliebsamen Dingen und Gewohnheiten zu trennen. Psychiater Manfred Lütz über die Dynamik des Frühlings

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Die Wohnung vom Dreck des Winters befreien, bis zur Freibadsaison endlich die Bikinifigur haben, neben unnötigen Kilos auch überflüssige Dinge loswerden – der Frühling scheint dafür die richtige Zeit zu sein. Auch Menschen, die mit der christlichen Fastenzeit nichts anfangen können, nutzen diese Aufbruchsstimmung. Im Interview mit Angelika Prauß beleuchtet der Kölner Psychiater und Theologe Manfred Lütz dieses Phänomen.

Herr Lütz, wie bewerten Sie die Entwicklung, dass Menschen auch ohne spirituellen Hintergrund im Frühjahr Verzicht üben oder sich von Überflüssigem trennen?
Ich glaube ja nicht, dass es Menschen ohne spirituellen Hintergrund gibt. Man kann ihn verschütten oder nicht daran denken. Aber jeder Mensch spürt von Zeit zu Zeit: Ich müsste mal einen Neuanfang machen, mal den Frühjahrsputz, mal in mir selbst aufräumen, mal sehen, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Dieses Bedürfnis haben nicht nur Christen.

Kann man von einem spirituellen Bedürfnis sprechen, das in den Wochen des Frühjahrs mit seiner neuen Lebensenergie aufbricht?
Durchaus. In jedem Menschen, auch in Nichtchristen, sind natürlich Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie antworten darauf aber unterschiedlich, und aus christlicher Sicht entgleitet das manchmal. Wenn man sich beispielsweise im Übermaß und einseitig auf den Frühjahrsputz konzentriert und darüber die vielleicht nötige mentale oder spirituelle Neuausrichtung vergisst. Das Jahr hat seinen Rhythmus; und es ist sinnvoll, dass auch der Mensch versucht, einen gewissen Rhythmus einzuhalten. Die Kirche macht das mit dem Kirchenjahr, und auch die Natur lehrt uns mit ihren Jahreszeiten, immer wieder neu anzufangen.

Warum üben Menschen freiwilligen Verzicht? Spüren sie, dass ihnen das Leben im Überfluss auf Dauer nicht gut tut, dass sie loslassen müssen – etwa Kilos, ungesunde Gewohnheiten, überfüllte Kleiderschränke, maßlosen Medienkonsum?
Das ist so. Eigentlich weiß jeder Mensch von selbst, dass Dinge, die man im Übermaß macht oder konsumiert, auf Dauer langweilig werden. Und wenn er ein bisschen tiefer geht, merkt er vielleicht, dass der Sinn des Lebens nicht darin bestehen kann, bestimmte Dinge anzuhäufen oder sich vollzustopfen, sondern existenziell zu leben.

Macht es Menschen auf einer tieferen Ebene zufriedener, wenn sie merken, dass sie auch mit weniger zurechtkommen?
Das klingt mir zu ratgebermäßig. Und außerdem sollte man bei solchen Überlegungen sensibel dafür bleiben, dass in unserer Welt Hunderte Millionen Menschen ganz unfreiwillig hungern. Wenn wir uns dann hier in Europa schwerwiegende Gedanken darüber machen, ob man nicht doch mal auf etwas verzichten kann, klingt das für solche Menschen sicher zynisch. Denn nicht selten geht es dann doch bei uns nur darum, ob man den Genuss des Lebens nicht irgendwie noch vermehren könnte, indem man beispielsweise mal ab und zu auf den Champagner verzichtet.

Mit dem routinemäßigen Griff zur Schokolade, dem Feierabendbier oder medialer Berieselung werden mitunter auch die innere Leere oder negative Erinnerungen weggedrückt. Sind Menschen genug vorbereitet auf die „Geister“, die beim Verzicht vielleicht zutage treten?
Das kann doch ganz spannend werden. Statt zu vermeiden, dass da etwas Unliebsames hochkommt, sollte man sich diesen „Geistern“ ganz offen stellen. Solche Erschütterungen können belebend und bereichernd sein. Das Leben ist kurz genug. Da ist es doch ganz schön, wenn man vor dem Ende mal wachgerüttelt wird, sich Belastendem stellt und spürt, worauf es im Leben wirklich ankommt.