Auch junge Leute können depressiv werden – Ruf nach Aufklärung
In den 1990ern hieß es oft noch “stell dich nicht so an”, wenn jemand von depressiven Symptomen berichtete. Seither hat sich viel getan. Doch sowohl Fachleute als auch Betroffene sehen weiteren Handlungsbedarf.
Er habe “seine Musik verloren”, so hat es ein Patient einmal gegenüber Psychiater Detlef E. Dietrich beschrieben. Gemeint war der emotionale Zugang zur Musik, eine Gefühllosigkeit, die Fachleute “Anhedonie” nennen. Sie ist eines der Kernsymptome von Depressionen, wie Dietrich am Donnerstag erklärte. Zwei dieser Anzeichen müssen über mindestens zwei Wochen vorhanden sein, um eine Diagnose zu stellen. Weitere Kernsymptome sind niedergedrückte Stimmung, verminderter Antrieb und ein Verlust von Interesse und Freude.
Oft kämen etwa Schlafstörungen, Ängste, Erschöpfung, Schuldgefühle oder ein verminderter Appetit hinzu. Allerdings: Bei jungen Menschen seien die Symptome oft diffus, warnte der Repräsentant der European Depression Association (EDA) in Deutschland. Die EDA begeht stets am ersten Sonntag im Oktober den Europäischen Depressionstag, in diesem Jahr also am 6. Oktober. Die Entstehung von Krankheiten sei grundsätzlich “so komplex, dass man genau hinsehen muss”, so Dietrich.
Der Experte sagte dies auch vor dem Hintergrund von “Modediagnosen”, die auf Sozialen Medien gehypt werden. Die Sängerin Anna Lisa Shirin Haeder, die als Teenagerin selbst an Depressionen erkrankte, sprach von einem regelrechten “Diagnosedruck”. Von sekundenlangen Videoclips mit oberflächlichem Informationsgehalt ließen Menschen sich mitunter einreden, etwa von Autismus betroffen zu sein – auch wenn es vielmehr darum gehe, “sich mit der eigenen Unverpasstheit in dieser Gesellschaft zurechtzufinden”.
Aufklärung auch unter jungen Menschen finde sie daher wichtig. Der Jugendbeirat der Stiftung Deutsche Depressionshilfe setzt sich derzeit mit einer Petition dafür ein, dass mentale Gesundheit in den Lehrplänen von weiterführenden Schulen verankert wird. 50.000 Unterschriften haben die Jugendlichen dafür laut Angaben bereits gesammelt. Die Stiftung bietet zudem eine kostenfreie Online-Fortbildung an, in der Lehrkräfte erfahren, wie sie Depressionen bei Schülerinnen und Schülern erkennen können.
Denn: Trotz steigender Zahlen werden Depressionen bei jungen Menschen oft nicht erkannt. Beschwerden würden mitunter als “typisch Jugendzeit” abgetan, sagte die österreichische Bindungsforscherin Manuela Gander. Zudem zeige sich eine Depression bei Kindern oder Jugendlichen oft anders als bei Erwachsenen. Reizbarkeit, aber auch Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen stünden bei jungen Menschen stärker im Vordergrund.
Oft fielen entsprechende Veränderungen, ein sozialer Rückzug oder nachlassendes Interesse, zunächst nahen Bezugspersonen auf. Das könnten Lehrkräfte sein – denen sich Schülerinnen und Schüler auch oft ihrerseits anvertrauten.
Studien zufolge erleben acht bis zehn Prozent der jungen Menschen einmal eine depressive Episode; Mädchen sind stärker betroffen als Jungen. Insofern seien vorbeugende Angebote wichtig, betonte Gander. “Bei depressiv erkrankten jungen Menschen steigt die Gefahr für Selbstverletzung, Essstörungen, Probleme in der Schule oder auch einen Abbruch der Ausbildung.”
Betroffene mahnen derweil auch zu sensiblem Vorgehen. In den 1990er Jahren hätte er sich gewünscht, ernstgenommen zu werden, sagte der Schauspieler Stefan Hossfeld. “Damals hieß es ‘stell dich nicht so an, geh Fahrrad fahren’.” Das Signal, über Nöte sprechen zu dürfen, sei auch deshalb wichtig, weil sonst Kreativität “im Kinderzimmer verloren” gehen könne, fügte er hinzu. Bis heute bereite das pädagogische Studium nicht einmal darauf vor, zu erkennen, ob ein Mensch eher räumlich, visuell oder akustisch denke und lerne.
Haeder ist jünger – und nach eigenen Worten dankbar für das Verständnis ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Andererseits seien Aussagen wie “Anna Lisa hat ein Problem, deshalb darf sie 20 Minuten später zum Matheunterricht kommen” nicht nur hilfreich gewesen. “Der Sonderling sein, das will man am wenigsten.” Gerade Jugendliche wollten dazugehören. Umgekehrt spiele man schnell “die Depressive” oder auch “die Revoluzzerin”, wenn man merke, dass dies offenbar alle erwarteten. Hier sei Fingerspitzengefühl gefragt, “auch, was die üblichen Launen von Jugendlichen angeht”.