Auch die Musik ist im Ausnahmezustand

Angesichts der Gefahr durch das Coronavirus scheint Musik für viele Menschen wichtiger denn je. Egal ob im Radio, im Stream oder als Flashmob.

Die Alpenbläser "Alptraumtrio" spielen vor dem Altenzentrum Vinzenz-von-Paul-Haus in Idstein (Hessen)
Die Alpenbläser "Alptraumtrio" spielen vor dem Altenzentrum Vinzenz-von-Paul-Haus in Idstein (Hessen)Heike Lyding / epd

Frankfurt a.M. Einer der ersten war der Starpianist Igor Levit. Seit Konzerte wegen der Corona-Krise abgesagt wurden, streamt er unter dem Slogan „No Fear“ („Keine Angst“) Hausmusik auf Twitter. Auch viele andere Künstler senden mittlerweile Musik von zu Hause aus in Netz. Ob Pop oder Klassik, den Livestreams folgen Zigtausende Hörer in aller Welt. Das Phänomen zeigt: Musik ist in dieser Zeit der Bedrohung durch das Virus für viele besonders wichtig. „Sie kann Angst mindern“, sagt der Berliner Musiktherapeut Andre Klinkenstein.

Levits Wohnzimmer-Konzerte haben heute schon Kultcharakter. Leger gekleidet, in Pulli und Socken, spielt der 33-Jährige am Flügel Liszt, Schubert oder Beethoven. Er spielt Stücke wie „Moments Musicaux“ oder die Mondscheinsonate – als „heilendes, ja rettendes Moment“, auch für sich selbst. Er wolle damit die „Kette der Einsamkeit“ durchbrechen, sagt er.

In vielen berührten, bewundernden und manchmal auch lustigen Kommentaren danken ihm Zuhörer aus allen Ecken der Welt; massenhaft werden Herzchen verteilt. Um das „musikalische Lagerfeuer“ („Die Zeit“) versammeln sich online oft mehr als 40.000 Menschen. Inzwischen fand eines der Konzerte beim Bundespräsidenten in Schloss Bellevue statt.


Mit Musik und Gesprächen will auch der Geiger und künstlerische Leiter der Dresdner Frauenkirche, Daniel Hope („Hope@Home“), einen Beitrag zur „Krisenbewältigung“ leisten. Musik müsse geteilt werden, denn sie sei eine „Quelle für Geborgenheit und Inspiration“, sagt Hope zu seinem Livestream auf Arte Concert.

Rund eine halbe Million mal wurden die ersten zwölf vom ZDF produzierten Videos Hope@Home bisher aufgerufen. Die Zuschauerzahlen für digitale Konzerte sind nach Angaben des Kultursenders überdurchschnittlich: Arte Concert verzeichnet seit Mitte März 3,5 mal so viele Musikvideo-Aufrufe wie in den Wochen davor. Die Aktion #United We Stream, die täglich Musik aus Berliner Clubs zeigt, kommt auf eine Million Views.

Überhaupt seien im März und April die Musikangebote in der ZDFmediathek (mit ZDFkultur) und bei www.3sat.de überdurchschnittlich gut genutzt worden, teilte das ZDF auf Anfrage mit. Im April seien pro Tag im Schnitt 7.000 Abrufe erzielt worden, das sei wesentlich mehr als sonst in diesem Monat.

Musik nimmt Angst

Das Musikstreaming-Unternehmen Spotify nannte keine Zahlen über neue Nutzer oder Abrufzahlen, erklärte aber, dass Künstler, die virtuelle Pop-Konzerte online gäben, bei Spotify anschließend „Spitzen“ im Streaming erreichten wie sonst nur nach Livekonzerten. Auch suchten Hörer eher nach entspannender Musik. Die für die Playlist ausgewählten Songs seien derzeit „chilliger“, klangvoller, ruhiger und weniger tanzbar.

Dass Musik auf allen Kanälen so präsent ist, führt Klinkenstein, Direktor des Berliner Instituts für Musiktherapie, auch auf einen „Ausdrucksstau“ zurück. „Musik eignet sich hervorragend, um nach außen zu kommunizieren: So geht es mir gerade. Die Musik kann das sagen“, erklärt er. Sie könne zugleich Angst nehmen. Schon dadurch, dass die durch Takt und Tempi bestimmte Musik Zeit strukturiere, vermittele sie ein Gefühl der Sicherheit.

Der Singer-Songwriter Sebastian Niehoff („Sebel“) aus Recklinghausen hat mit seinem Lied „Zusammenstehen“ eine Art „Corona-Hit“ gelandet. Wie er selbst in Interviews sagte, komponierte er den Song – frustriert von der Corona-Situation – in wenigen Stunden und stellte ihn ins Netz mit dem Aufruf an Kollegen, eigene Versionen beizutragen. Er traf damit offenbar einen Nerv. Das Lied wurde bei Youtube mehr als zwei Millionen mal geklickt.

Und dann gibt es auch in Deutschland – nicht nur in Italien und Spanien – vielfach die Musik auf den Balkonen. Sänger und Musiker wollen aufmuntern und Mut machen: „Heute 18 Uhr Singen. Straße, Fenster, Balkon“ hieß es kürzlich etwa in der Frankfurter Günthersburgallee. Erst zaghaft, dann mutiger stimmten Nachbarn und Passanten ein in populäre Lieder wie „Frère Jacques“, „Alle Vöglein sind schon da“ oder „Que sera, sera“.

„Musik ist für mich ein heilendes Instrument der Seele. Sie hat eine Kraft“, sagt die Wiesbadener Balkon-Sängerin Coco Safir in einem ZDF-Interview. Die Musik setze Ungewissheit und Angst etwas entgegen. Klinkenstein betont, das Medium Musik habe „mehr emotionale Power als andere“.

Altes Lied neu entdeckt

Auch Kirchenmusiker haben längst den Weg ins Netz gefunden und in vielen Videos Orgelmusiken angeboten. Ostern rief die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gar zum „Auferstehungs-Flashmob“ auf. Trompeten, Posauen und Sänger stimmten allerorten von Fenstern und Balkonen aus das Osterlied „Christ ist erstanden“ an.

Besonders oft gesungen wird aber derzeit ein altes Abendlied: „Der Mond ist aufgegangen“ mit dem Text von Matthias Claudius, der auch an den „kranken Nachbarn“ denkt. Der Rias Kammerchor Berlin etwa streamte eine Aufführung, für die Sänger per Video zusammenschaltet wurden. Den Musiktherapeuten Klinkenstein wundert die Beliebtheit dieses kunstvollen Lieds nicht, denn es habe „etwas Beruhigendes.“ (epd)