Arte-Doku über einen Aufstand in einem Wiener Bordell
Eine Arte-Dokumentation beleuchtet den wohl ersten erfolgreichen Aufstand gegen Zwangsprostitution und Kuppelei im Wien der Jahrhundertwende.
Eine junge Prostituierte aus Wien wendet sich 1906 an einen Journalisten, der ihre Zuhälterin vor Gericht bringt und so die gesellschaftlich geduldete Ausbeutung verarmter Frauen erstmals öffentlich macht. In einem Edelbordell mitten im besten Stadtviertel der K.u.K.-Metropole werden diese jungen Frauen festgehalten – gegen ihren Willen. Zu den Stammkunden zählt der Polizeichef selbst, der kostenlos bedient wird und deshalb beide Augen zudrückt.
Auf der Grundlage ausführlicher Prozessakten lüftet eine Arte-Dokumentation Geheimnisse eines tolerierten (Freuden-)Hauses. Stefan Ludwig zeichnet ein sehenswertes Sittenbild vor dem Hintergrund eines geduldeten Frauenhandels und einer repressiven bürgerlichen Sexualmoral.
Seit sie sechzehn Jahre alt ist, geht die Arbeitertochter Marie König auf den Strich. Viele Frauen aus verarmten Verhältnissen tun es ihr gleich. Doch seit einigen Jahren wird Marie obendrein in einem luxuriösen Etablissement mitten in einem Wiener Nobelviertel gefangen gehalten und zum Sex mit angesehenen Bürgern der Stadt gezwungen.
Bezahlung? Erhält sie so gut wie keine. Ihre Zuhälterin habe ja viele Auslagen für das verwahrloste Mädchen gehabt, das sie gesund pflegen und mit schönen Kleidern ausstatten musste. Ihr Vater selbst duldet die Versklavung der eigenen Tochter. Dafür erhält er monatlich ein Schweigegeld.
Als Marie König im Sommer 1906 ihr Schicksal mit Unterstützung des Journalisten publik macht, muss sich die Bordellbetreiberin Regine Riehl wegen Freiheitsberaubung vor Gericht verantworten. Der Prozess stößt auf großes Medieninteresse. Mitleidig – vor allem aber mit geiferndem Voyeurismus – reagiert das Wiener Bürgertum auf die detaillierten Einblicke in die Lebensumstände jener “Freudenmädchen”, denen die auferlegte Zwangsarbeit so gar keine Freude bereitet. Hitzig diskutiert wird die korrupte Rolle der Sittenpolizei. Als Beobachterinnen anwesend sind auch Frauenrechtlerinnen, die den Prozess zur Grundlage für ihre feministischen Forderungen machen.
Im Rückgriff auf umfangreiche Prozessakten zeichnet der Film die Gerichtsverhandlung sowie ihre vielfältigen Auswirkungen nach. Der damit verbundene Skandal führte zu einer Neubewertung der Prostitution in Österreich.
Filmemacher Ludwig erweitert die Rekonstruktion des Prozesses um Hintergründe zum Geflecht internationaler Frauen- und Menschenhändlerringe sowie über die Ursachen für das florierende Geschäft mit käuflichem Sex. Armut und politische Verfolgung, so zeigt die Dokumentation, zwingen vor allem zahlreiche Frauen aus Osteuropa zur Migration nach Wien, das um die Jahrhundertwende noch zu den größten Metropolen weltweit zählt. Von hier aus verschlägt es junge Europäerinnen sogar bis nach Argentinien, Brasilien oder Russland.
Ihre Geschichten haben diese Frauen selten aufgeschrieben. Anhand von Polizeifotos und Gerichtsakten skizziert der Film ihr Schicksal und gibt ihnen so eine Stimme. Eine von ihnen ist die aus Hamburg stammende Jüdin Marie Haase, die gemäß einer verbreiteten Masche mit dem falschen Versprechen einer angeblich gut bezahlten Stellung nach Petersburg gelockt worden war. Zu spät begriffen Opfer wie sie, dass man sie durch das Vorstrecken der Reisekosten gezielt in eine Verschuldung getrieben hat – die sie nun, bitteschön, als Prostituierte abzuarbeiten habe. Nur wenige der Frauen konnten sich aus diesem Teufelskreis befreien.
Kommentiert durch Stellungnahmen von Kulturwissenschaftlern wie Klaus Samuel Davidovicz sowie der Kuratorin Irene Stratenwerth, gibt die Dokumentation differenzierte Einblicke in die Historie des Frauenhandels.
Dank aufwändiger Ausstattung sowie dem Einsatz profilierter Darstellerinnen wie Alice Prosser als Marie König mutet dieses Reenactment nicht ganz so hölzern an wie in vielen anderen historischen Dokudramen. Die Bruchlinie zwischen diesen Spielszenen, die eher wenig informativen Mehrwert haben, und der dokumentarischen Recherche wird dadurch aber umso deutlicher sichtbar.