Antigeistliches Berufsjammertum

UK 9/2019, Dank (Seite 12: „Die größte Kraft des Lebens ist der Dank“)
Undankbarkeit ist eine Form von Gottferne, die sich früh im Alten Testament ausmachen lässt. Kaum war Mose für einige Wochen quasi zu Gott entrückt, das heißt konkret: für das Volk Israel während der Wüstenwanderung physisch nicht präsent, schon schmolz sich dieses ein Goldenes Kalb zusammen. In gewisser Weise war dies die Geburtsstunde des Raubtierkapitalismus als auch der Scientology-Sekte: Der entfesselte Tanz in Anbetung des neuen Gottes Mammon konnte beginnen.
Nun greift es aber zu kurz, das Volk Israel als Abtrünnige und professionelle Querulanten abzukanzeln. Der Gemeinschaft wird zwar das honigsüße Himmelsbrot Manna überreich geschenkt, und die gebratenen Wachteln fliegen ihr sprichwörtlich in den Mund. Allerdings ist der Speiseplan sehr einseitig. Ich persönlich mag Brokkoli und Lachs. Doch wenn ich diese kulinarischen Köstlichkeiten monatelang und zentnerweise in mich hineinstopfen müsste, würde ich auch murren.
Die edelste und traditionsreichste Form der Undankbarkeit ist sicherlich die Klage, ganz einfach, weil sie berechtigt ist, wenn Schicksal oder Umstände jemandem hart zusetzten. Zur Zeit ist auf politischer Ebene jedoch zu beobachten, dass Formen und Rituale eines antigeistlichen Berufsjammertums überstrapaziert werden.
Die AfD etwa setzt ihr Stimmvolumen zum großen Teil aus religiös unverwurzelten Krakeelprofis und deren Mitläufern zusammen, die FDP würde wohl am liebsten die „Unsoziale Marktwirtschaft“ einführen, damit ihre Klientel in selbstverständlicher Weise Golfplätze beanspruchen kann, während den weniger Privilegierten selbst der Bolzplatz um die Ecke missgönnt wird.
Das Gefühl der Dankbarkeit hingegen ist ein aktives, stabilisierendes Moment, das sich in seinen Grundfesten zuunterst auf die Reflexion gründet: Danke, Heiliger Geist, dass es nicht schlimmer ist. Insofern lässt sich Dankbarkeit bestenfalls als einen an der eigenen menschlichen Existenz orientierten metaphysischen Erkenntnisprozess betrachten. Und dafür braucht es nicht einmal Lachs und Brokkoli, es reichen auch Spinat und Kartoffeln.
Michael Hof, Bad Berleburg