Animationsfilm „Der Junge und der Reiher“ – Magische Reise

Bildgewaltiges Anime um einen Jungen, der in der japanischen Provinz mit der Trauer um seine Mutter ringt, die in Tokio bei einem Luftangriff ums Leben kam.

Während des Pazifikkrieges fällt die Mutter des 12-jährigen Mahito in Tokio einem Luftangriff zum Opfer. Der Junge soll daraufhin in der Provinz ein neues Leben beginnen. Doch die Erinnerung daran, wie er sich verzweifelt durch die brennende Stadt kämpft, sucht ihn in seinen Träumen immer wieder heim.

Das Anime „Der Junge und der Reiher“ zeigt Mahito an der Schwelle zwischen einem hartnäckigen Trauma und einer ungewissen Zukunft. Verkörpert wird dieser Übergang von Kiriko, der neuen Frau von Mahitos Vater, bei der es sich um die jüngere Schwester der Verstorbenen handelt. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit der toten Mutter beobachtet der Junge sie mit einer Mischung aus Befremden und Faszination.

Abgesehen davon, dass Mahitos Vater eine Munitionsfabrik betreibt, ist der Krieg in der ländlichen Idylle weitgehend abwesend. Meisterregisseur Hayao Miyazaki (82), Mitbegründer der populären Animationsschmiede Studio Ghibli, erforscht die Umgebung mit einem sinnlichen Realismus, der gekonnt zwischen Lebensnähe und Stilisierung balanciert. Die Animationen sind handgezeichnet und wurden für einen besseren räumlichen Eindruck mit 3D-Computergrafiken erweitert. Besonders werden sie durch ihre Unvollkommenheit. Die Gräser und Büsche, die in saftigem Grün sprießen, sind nicht bis ins kleinste Detail durchgezeichnet, sondern bleiben impressionistisch verwischt, wodurch eine flirrende Atmosphäre entsteht.

Besonders am Anfang kombiniert „Der Junge und der Reiher“ immer wieder präzise Alltagsbeobachtungen mit Karikaturen. Zu beobachten ist das etwa bei den alten Frauen, die in Mahitos neuem Zuhause als Bedienstete arbeiten. Mit gebückter Körperhaltung und übergroßen Gesichtsmerkmalen wuseln sie aufgeregt um den Jungen herum oder versuchen, sich listig eine Zigarette zu ergaunern.

Die Ästhetik des Films ist häufig von einem kindlich staunenden Blick geprägt. Das traditionelle japanische Holzhaus wirkt mit seinen langen Gängen und knarzenden Dielen geradezu gespenstisch. Die Neugier und Behutsamkeit, mit der Mahito den Schauplatz erforscht, findet ihre Entsprechung im schönen Soundtrack von Joe Hisaishi. Zart, fließend und melancholisch tastet er sich mit einfachen Klaviermelodien vor, die allmählich von einem kleinen Kammerensemble ergänzt werden.

Anders, als es zunächst scheint, öffnet sich die Geschichte bald hemmungslos dem Fantastischen. Zunächst ist es ein dubioser Reiher, der Mahito mit krächzender Stimme zu seiner toten Mutter locken will. Kurz darauf verschwindet die schwangere Kiriko in einem seltsamen Turm, der sich auf dem Anwesen befindet. Durch ihn gelangt Mahito in eine surreal morbide Parallelwelt, in der die Handlung freier und unberechenbarer wird.

Mit dem seltsamen Reiher kündigt sich bereits an, dass hier alles nach eigenen Regeln läuft. Der Vogel erweist sich als bloße Verkleidung für einen miesepetrigen Zwerg mit Halbglatze und grotesk geschwollener Nase. Seine genaue Natur bleibt ebenso nebulös wie seine Absichten. Mal ist er Mahitos Gegenspieler, dann wieder sein Gehilfe.

In dem zauberhaften Reich trifft Mahito außerdem auf die jüngere Version einer Bediensteten sowie seine Mutter als Mädchen mit magischen Kräften. Auch allerlei sonderbare Wesen wohnen hier. Etwa die niedlich amorphen Warawaras, die in den Himmel steigen, um als Menschenbabys geboren zu werden. Oder die übergroßen Wellensittiche, die zwar harmlos doof dreinschauen, sich aber von Menschenfleisch ernähren.

Zu den Stärken von „Der Junge und der Reiher“ zählt insbesondere seine grenzenlose Fabulierlust. So ist zwar klar, dass das fantastische Reich irgendwie mit der Wirklichkeit verbunden ist, jedoch nicht, auf welche Weise. Die Logik wirkt eher irrational wie in einem Traum. Vor allem scheint hier Mahitos gequältes und turbulentes Seelenleben in episch märchenhafte Dimensionen auszuarten. Seine Verlorenheit, die Überforderung durch den Tod der Mutter und die beängstigende Zukunft spielen dabei eine besondere Rolle.