Als Rollstuhlfahrerin auf dem Wacken Open Air

Das Metal-Festival Wacken Open Air macht vor, wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen die Teilhabe an großen Kulturveranstaltungen ermöglicht wird.

Steffi R. besucht gern Rockfestivals und große Konzertveranstaltungen. Die Vielzahl bunter Eintrittsbändchen, die ihren Unterarm schmücken, zeugt davon. Dass sie im Rollstuhl sitzt, ist für sie kein Hinderungsgrund. Mit Ehemann Michael an ihrer Seite besucht sie besonders gern das viertägige Wacken Open Air. Seit 2014 hat sie keine Ausgabe versäumt.

Das schleswig-holsteinische W:O.A, so die Eigenschreibweise, zählt zu den größten Heavy-Metal-Festivals weltweit. 85.000 Eintrittskarten wurden laut Veranstalterangaben für die am Samstag beendete Ausgabe verkauft. In dieser Masse an Besuchern ist Steffi R. nicht die einzige Person mit Handicap. Sie bewohnt die “Wheels-of-Steel-Area”, benannt nach einem Song der britischen Hardrock-Band Saxon, ein eigener Camping- und Service-Bereich für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Die werden in Wacken nicht ins einsame Abseits geschickt – bis zu vier Begleitpersonen dürfen pro Parzelle mitgebracht werden.

Die Anfänge waren bescheiden, berichtet Mona Sambale vom Trägerverein Alsterarbeit, der 2021 die Betreuung dieses Festivalbereichs übernommen hat. “Ein drei mal drei Meter großer Halbpavillon, ein bisschen Reparaturmaterial, Bereifung und eine Person. Das war 2014.” Zug um Zug wurde das Angebot den Bedürfnissen angepasst. Heute sind Toiletten, die allein Menschen mit Beeinträchtigung vorbehalten bleiben, über das gesamte Festivalgelände verteilt. Rollstuhlfahrer finden barrierefreie Toiletten vor, geeignete Wege und Rampen, Podeste, die eine gute Sicht auf die Bühnen gewähren.

Sauerstoffgeräte können aufgefüllt, Batterien nachgeladen werden. Menschen mit Behindertenausweis erhalten ein “Kurze-Wege-Bändchen”, das ihnen die Benutzung ansonsten gesperrter Trassen und der Notausgänge erlaubt. Seit jüngerer Zeit richtet sich auf der Informationsebene vermehrt Aufmerksamkeit auf Hör- und Sehbehinderungen. Bei einigen Konzerten übersetzt eine Dolmetscherin Texte und Moderationen in Gebärdensprache. Alle Leistungen sind kostenlos.

Das Personal engagiert sich ehrenamtlich, der medizinische Bedarf wird von einem Sanitätshaus gestiftet, die Infrastruktur vom Veranstalter. Mittlerweile treten jährlich 78 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Reise nach Wacken an. Sie arbeiten schichtweise von morgens um 10.00 Uhr bis abends um 22.00 Uhr. “Meistens länger”, berichtet Dirk Geisler, der Leiter der Einrichtung mit einem Augenzwinkern.

Das Zentrum neben dem Wheels-of-Steel-Camping-Platz ist auch ein Treffpunkt. Viele kommen zum wiederholten Male, kennen sich untereinander. Es hat sich eine Gemeinschaft gebildet, eine “große Familie”, wie viele Beteiligte übereinstimmend sagen. Die Nachfrage nach den speziellen Camping-Plätzen für Menschen mit Handicap ist über die Jahre stetig gewachsen. Schon Monate vor Festivalbeginn waren alle Plätze ausgebucht. Was Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sowie Gehbehinderte keineswegs abschreckt. Auch auf den übrigen Camping-Plätzen trifft man, wie überhaupt auf dem gesamten 240 Hektar großen Gelände, Personen, die auf Gehhilfen angewiesen sind, deren Sehvermögen eingeschränkt ist, die medizinische Hilfsmittel benötigen.

Entscheidend dabei: Im Anlaufpunkt auf dem Wheels-of-Steel-Areal finden sie versierte Ansprechpartner. Hier stehen Orthopädiemechaniker, Reha- und Medizintechniker bereit. Defekte Rollstühle werden wieder mobil gemacht, Prothesen repariert oder neu angepasst. Auch bei Verletzungen, die erst im Verlauf des Festivals auftreten, kann manchmal geholfen werden, sodass die Betroffenen den Konzerten weiter beiwohnen können. Zwei Physiotherapeutinnen halten sich – nicht nur – für solche Fälle bereit.

Mit den technischen und medizinischen Dienstleistungen ist die Tätigkeit von Alsterarbeit nicht erschöpft. Die Mitarbeitenden helfen, wenn ausländische Metalheads ihren Rollstuhl nicht über Ländergrenzen transportieren können. Zehn bis 15 Prozent der Anfragen kommen aus dem Ausland. Für solche und ähnlich gelagerte Fälle gibt es einen Bestand an Leihartikeln, auch Rollatoren und andere Gehhilfen. Die allerdings müssen eigens gekennzeichnet sein. Potenziell gefährliche Gegenstände wie Stockschirme dürfen nicht mit auf das Gelände genommen werden. Ein gelbes Siegel verrät den Ordnern dass es sich um ein genehmigtes medizinisches Hilfsmittel handelt.

Auch Andrea Schütt zählt seit Jahren als Rollstuhlnutzerin zu den regelmäßigen Festivalbesuchern. Sie engagiert sich im Rahmen von Alsterarbeit, konnte über die Jahre mit einigen Anregungen dazu beitragen, den Service für Menschen mit Beeinträchtigung zu verbessern. Als Autorin ist es ihr ein Anliegen, diese Personengruppe zur Teilhabe am kulturellen Leben zu ermutigen, gerade auch bei Musikfestivals wie dem Wacken Open Air. Die Möglichkeiten seien noch zu wenig bekannt.

Andrea Schütt, Steffi R. und andere Festivalbesucher loben den Service, nicht weniger die besondere Atmosphäre in Wacken. Menschen mit Beeinträchtigungen welcher Art auch immer wird Respekt entgegengebracht. Hilfsbereitschaft und Toleranz werden groß geschrieben.

Gewisse Unachtsamkeiten gibt es immer, wo viele Leute versammelt sind, auch in Wacken. Aber niemand wird wegen seines Aussehens gehänselt, beleidigt, abgelehnt. Betroffene haben keine Angst, eine Amputation zu zeigen, keine Scheu, über ihre Erkrankung zu sprechen. Michael R. bringt auf den Punkt, warum alljährlich tausende Menschen ein Wacken-Ticket ordern, obwohl das kommende Programm noch gar nicht feststeht: “Hier ist es so, wie das Leben sein sollte.”

Der Unterschied wird deutlich, sobald man das Festivalareal verlässt, so die Erfahrung von Andrea Schütt. Man gerate förmlich in eine andere Welt. Verminderte Gehfähigkeit werde mit geistiger Behinderung gleichgesetzt, Rollstuhlfahrer werden missachtet, herablassend behandelt, beleidigt. Aber, so Andrea Schütt, das Verständnis wächst. Dazu hätten unter anderem die Medienberichterstattung und insbesondere die Paralympics beigetragen. Auch andere Veranstalter sind mittlerweile sensibilisiert.

Jonas Rohde von der FKP Scorpio Konzertproduktion verweist auf Anfrage auf die “Special Needs Camps”, die auf den von dem Unternehmen veranstalteten Festivals Hurricane, Southside, Highfield und M’era Luna eingerichtet wurden. In jüngster Zeit wurde ein Erfahrungsaustausch mit Alsterarbeit begonnen.

Andernorts scheint man noch nicht ganz so weit zu sein. Rock am Ring antwortet auf die Frage, “welche Möglichkeiten sich Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen für die Teilnahme an Festivals und großen Konzertveranstaltungen bietet”, lakonisch: “Herzlichen Dank für ihre Anfrage. Diese möchten wir freundlich absagen. Viele Grüße …”

Trotz allem – Wacken bleibt, wie andere Festivals, eine gewisse Herausforderung. 2023 machte Veranstaltern und Gästen ein Dauerregen zu schaffen, verwandelte das Gelände in ein Schlammbad. “Das war richtig Arbeit”, erinnert sich Andrea Schütt. Aber es kam nie in Betracht, in diesem Jahr auf das Festival zu verzichten. Auch 2025 wird sie sicherlich in Wacken wieder dabei sein. Erkennbar an dem Gefährt mit dem Aufnäher: “Pimp my Rolli 2012 Contest Winner”.