Jedes Jahr beenden rund 10.000 Menschen in Deutschland ihr Leben selbst. Drei Viertel von ihnen sind Männer. Einer, der es versucht hat, ist Jürgen. Heute klärt er über Warnsignale und Wege aus der Verzweiflung auf.
Rückblickend stellt Jürgen sich die Frage, wie er das “finale Debakel” hätte verhindern können. Ob es während seiner depressiven Erkrankung einen Zeitpunkt gegeben hat, an dem er vor dem Tunnel hätte abbiegen können. “Es hätte Möglichkeiten gegeben”, ist der heute 64-Jährige überzeugt. Doch damals rauschte er unversehens ins Dunkle des Tunnels – und damit ins Verderben. Den Crash, der folgt, überlebt er nur knapp. Sein Leben ist seitdem ein anderes.
Jürgen, der eigentlich einen anderen Namen trägt, für diese Geschichte aber anonymisiert werden soll, war ambitionierter Sportler, Triathlet. Im Flur seines Hauses hängen Medaillen an den Wänden. Die vom Ironman auf Hawaii fehlt. Jürgen war auf Hawaii, vor zwei Jahren – als Zuschauer. Zu sehen, wie die Sportler mit ihren Rennrädern an ihm vorbeziehen, wie sie erschöpft, aber glücklich dem Ziel entgegenlaufen, versetzt ihm einen Stich. Jürgen wird nie wieder laufen können, und er wird auch wohl nie wieder Fahrrad fahren können. Seit seinem Suizidversuch vor fünf Jahren sitzt er im Rollstuhl.
Jürgen hatte sein Lebensende minutiös geplant. Wie er immer alles in seinem Leben genau geplant hatte. Dass etwas schief gehen könnte, sei ihm nicht in den Sinn gekommen. Er hatte das Auto durch die Waschanlage gefahren und vollgetankt, am Morgen hatte er noch mit seinem Sohn einen Kaffee in der Stadt getrunken. Als er nach Hause zurückkommt, parkt er den Wagen in der Garage, checkt seine E-Mails.
Er nimmt ein Blatt Papier und schreibt einen Brief. Er schreibt, dass seine Frau sich nicht sorgen solle, das Haus sei abbezahlt, das Auto in Ordnung, auf sie warte eine schöne Zukunft. Mit ihm sei das nicht mehr möglich. Sie habe zuletzt doch nur noch weinen müssen, wenn sie zusammen gewesen seien.
Jürgen hat schwere Depressionen, und in dem Moment, in dem er den Brief schreibt, ist er überzeugt: Das ist die einzige Lösung. Er muss sein Leben beenden.
Jürgen arbeitet bei einem großen Konzern, zwischen Wohn- und Arbeitsort liegen hunderte Kilometer, so dass er pendelt. Zu Hause ist er nur am Wochenende. Das läuft gut; die Krise beginnt erst, als Umstrukturierungen im Betrieb anstehen. Kollegen sollen ihre Jobs verlieren, und Jürgen gehört zum Management, das das organisieren soll. Das belastet ihn sehr. “Ich habe meinen Chefs gesagt: ,Ich glaube, ich schaffe das nicht.'” Doch die klopfen ihm auf die Schulter: Das wird schon, du bist sehr gut.
Er denkt: “Das wird nicht gut”. Aber das kann er der Konzernleitung nicht sagen. “Ich wusste, wie über andere Kollegen gesprochen wurde, die sich wegen eines Burnouts oder einer Depression hatten krank schreiben lassen: “,Der hat wohl keine Lust mehr?’ oder ,Die soll sich nicht so haben, so schlimm wird es nicht sein.'”
Als selbst ein Urlaub nicht hilft – ein Trainingscamp auf den Kanaren, das ihm sonst immer Energie für den Alltag gegeben hatte -, als seine sportlichen Leistungen schlechter werden, obwohl er so viel schwimmt und Rad fährt wie nie zuvor, sucht Jürgen seinen Hausarzt auf. Der will ihn für mehrere Wochen krankschreiben. Doch Jürgen lehnt ab. “Es war so viel zu tun im Betrieb, ich konnte nicht einfach ausfallen.”
Ein paar Wochen später sitzt er wieder bei seinem Arzt. Der empfiehlt ihm, einen Psychiater aufzusuchen und gibt ihm eine Liste mit Adressen. Jürgen telefoniert die Namen ab, keiner hat einen Termin frei. Schließlich gelingt es ihm, über die Akutambulanz eines Krankenhauses doch zu einem Psychiater zu gelangen. Der rät ihm, sich in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen.
Heute weiß Jürgen, dass das das Beste gewesen wäre, eine Abbiegung vor dem Tunnel. Doch damals denkt er: “Ich geh doch nicht in die Klapsmühle”. Das sei seine Vorstellung von einer Psychiatrie gewesen: alles Verrückte.
Der Psychiater bietet ihm alternativ an, an einem Tageskurs teilzunehmen, da könne er morgens kommen und abends wieder gehen. Jürgen willigt ein. “Niemand sollte nach meinem Tod sagen, ich hätte es nicht wenigstens versucht.” Doch er findet nicht in die Therapie hinein: Sie töpfern und singen, schlagen die Triangel und laufen im Schritttempo übers Gelände. “Wie sollte das gehen? Ich war doch Marathonläufer!” Spätestens da ist Jürgen überzeugt: Es ist zu Ende. Mit ihm. Mit dem Leben. Seine Mitarbeiter verlieren ihre Jobs, und er schlägt die Triangel. Jetzt ist da nur noch der Tunnel, keine Abbiegung mehr.
Als Jürgen nach Monaten im Krankenhaus und der Reha nach Hause kommt, hat er Pflegegrad III, seine Behinderung: 100 Prozent. “Jeder Tag ist herausfordernd – für meine Frau und mich selbst”, sagt Jürgen. Er nimmt Antidepressiva, hat regelmäßig Termine beim Neurologen, Psychiater und einer Psychotherapeutin.
Jürgen erzählt seine Geschichte, so sagt er, weil er hofft, andere Menschen vor dem “finalen Debakel” zu bewahren. Er wünscht sich, dass psychische Erkrankungen kein Tabu mehr sind, dass Betroffene darüber sprechen und sich anderen anvertrauen.
In seinem Familienkreis gebe es Personen, die ihm bis heute nicht verziehen hätten. Kurz vor dem Suizidversuch sei ein naher Verwandter an Krebs gestorben. Menschen hätten zu ihm gesagt: “Der hatte keine Wahl, der musste sterben. Warum wirfst du dein Leben einfach weg?” Doch auch er sei schwer krank gewesen. Das habe nur niemand gesehen.