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Als die katholische Kirche Juden und Muslimen die Hand reichte

Mit der Erklärung “Nostra aetate” vollzog die katholische Kirche im Oktober 1965 eine epochale Wende gegenüber anderen Religionen. Besonders Judentum und Islam sah sie in einem neuen Licht. Was ist daraus geworden?

Christen, Juden und Muslime in respektvollem Dialog – jahrhundertelang schien das undenkbar. Verfolgung, Kriege und gegenseitige Diffamierung prägten ihr Verhältnis von Anfang an. Vor 60 Jahren machte die katholische Kirche einen entscheidenden Schritt aus diesem Teufelskreis. Mit der Erklärung “Nostra aetate” (In unserer Zeit), die Papst Paul VI. am 28. Oktober 1965 kurz vor Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils verkündete, reichte sie auch anderen Glaubensgemeinschaften die Hand.

Das Judentum nimmt in “Nostra aetate” den größten Raum ein. “Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche (…) alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben”, heißt es darin.

Aus Sicht der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) war dies eine “theologische Zeitenwende”. Zum ersten Mal habe sich die katholische Kirche klar von jahrhundertelangen Vorurteilen und Feindbildern abgewandt, sagen Rabbiner Avichai Apel (Frankfurt), Zsolt Balla (Leipzig) und Yehuda Pushkin (Stuttgart) vom ORD-Vorstand der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Für uns Juden war das der Beginn einer neuen Epoche des gegenseitigen Respekts.”

Heute kümmert sich die vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum um den Dialog. Wie es um ihn bestellt ist, hat auch die Zeit nach dem 7. Oktober 2023 gezeigt, als die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen hatte. “Der 7. Oktober hat das jüdische Volk zutiefst erschüttert – und zugleich eine Bewährungsprobe für den interreligiösen Dialog ausgelöst”, betonen die Rabbiner. “Leider haben wir in den Monaten danach auch Stimmen aus kirchlichen Kreisen gehört, die dem Geist von ‘Nostra aetate’ widersprechen.”

So seien das Existenzrecht Israels relativiert und der Terror moralisch verwischt worden, so Apel, Balla und Pushkin. Viele Mitglieder der Rabbinerkonferenz sähen den Dialog heute skeptisch.

In den Monaten nach dem 7. Oktober war von jüdischer Seite dem mittlerweile gestorbenen Papst Franziskus Parteinahme für die Palästinenser und einseitige Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung im Gaza-Krieg vorgeworfen worden. Positiv bemerkt wurde, dass Papst Leo XIV. ein paar Tage nach seiner Wahl in einer Botschaft an den römischen Oberrabbiner Riccardo Di Segni zusicherte, “den Dialog und die Zusammenarbeit der Kirche mit dem jüdischen Volk fortzusetzen und zu stärken im Geiste der Erklärung ‘Nostra aetate’ des Zweiten Vatikanischen Konzils”.

Wenn der Geist von “Nostra aetate” lebendig bleiben solle, brauche es jetzt “klare, glaubwürdige Solidarität mit Israel und der jüdischen Gemeinschaft – ohne Wenn und Aber”, mahnen die drei deutschen Rabbiner. Sie jedenfalls wollen an diesem Geist festhalten.

Seit der Konzilserklärung seien durch gemeinsame Bildungsinitiativen und Stellungnahmen gegen Antisemitismus echte Brücken entstanden, erklären die Rabbiner. Viele Bischöfe und kirchliche Vertreter stünden heute sichtbar an der Seite jüdischer Gemeinden.

Nicht weniger sensationell war 1965 die Öffnung für den Islam. “Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten”, heißt es in “Nostra aetate”. Die islamische Welt reagierte zunächst zurückhaltend auf das katholische Angebot. “In den folgenden Jahrzehnten wuchs jedoch die Dialogbereitschaft, besonders nach der Einrichtung offizieller Gesprächsforen und bilateraler Kommissionen”, bilanziert Timo Güzelmansur, Leiter der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dialogstelle (CIBEDO) der Deutschen Bischofskonferenz. “Heute gibt es stabile, institutionalisierte Dialogstrukturen.”

Die Muslime ehren Jesus als Propheten. Den Glauben an seine Göttlichkeit lehnen sie aber scharf ab. Dennoch gebe es viele Gemeinsamkeiten, so Güzelmansur: “Der Glaube an den einen Gott, die Bedeutung des Gebets, die ethische Verantwortung des Menschen, der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, das sind zentrale gemeinsame Grundlagen.”

Der Dialog zwischen dem Vatikan und den Muslimen ist heute Aufgabe der Kommission für die christlich-islamischen Beziehungen, die der Vatikanbehörde für den Interreligiösen Dialog zugeordnet ist. Skeptiker meinen, der Dialogwille sei auf christlicher Seite deutlich stärker ausgeprägt als bei muslimischen Autoritäten. “Teilweise stimmt das”, meint der CIBEDO-Leiter. “Auf muslimischer Seite entwickelt sich der Dialog oft pragmatischer. Doch das Interesse wächst, besonders dort, wo gegenseitiges Vertrauen gewachsen ist. Pauschalkritik greift hier zu kurz.”

2001 besuchte Johannes Paul II. in Damaskus als erster Papst eine Moschee. Unter seinem Nachfolger Benedikt XVI. kühlten die Beziehungen der Kirche zur islamischen Welt ab. Doch Papst Franziskus belebte “Nostra aetate” neu. Die “Erklärung zur Geschwisterlichkeit aller Menschen”, die er 2019 mit dem Großimam der Kairoer Azhar-Universität in Abu Dhabi unterzeichnete, gilt als Meilenstein des christlich-muslimischen Dialogs. “Es gibt heute ein dichtes Netz persönlicher Kontakte, gemeinsamer Initiativen, akademischer Kooperationen und Friedensaufrufe”, so Güzelmansur. “Das gegenseitige Verständnis ist deutlich gewachsen.”