Als der Drahtzieher das Zwetschgenmännla erfand
Mit einem kleinen Hammer gibt Julian jedem einen Schlag auf die Nuss: Vor ihm stehen drei kleine Männchen, denen er gerade eine bemalte Walnuss auf den Körper gesetzt hat: Die soll fest sitzen, damit das Zwetschgenmännla mit den freundlichen Augen und der roten Stecknadelnase seinen Kopf nicht verliert.
Seit frühester Kindheit an ist Julian Scheller von Zwetschgenmännla umgeben. Er ist die fünfte Generation der Familie Scheller, die sich dem „Zwedschgermo“-Geschäft für den Nürnberger Christkindlesmarkt verschrieben hat. Das Wesen aus getrockneten Pflaumen und Feigen, oft angezogen als Schlotfeger, mit Leiter und Zylinder, einem Fliegenpilz in der Hand, ist eines der Symbole des weltberühmten Marktes. Julians Ur-Ur-Großmutter Maria Fischer soll es als erste auf den Markt gebracht haben, heißt es.
Früher gab es wohl mehr als ein Dutzend Stände, an denen die hutzeligen Männlein und Weiblein verkauft wurden, erzählt Julians Mutter Helga Scheller. Heute sind es noch vier Buden mit Schlotfegern und Co. Und alle angebotenen Figuren entstehen in ihrer Werkstatt und der ihrer Schwester Susanne Schrödel: „Wenn es uns nicht mehr gibt, gibt es das nicht mehr“, sagt Scheller.
Im September wurden die Trockenfrüchte und die Nüsse in dreierlei Größen geliefert – dann konnte die Produktion für den Advent 2024 im Keller eines Reihenhauses in Nürnberg-Langwasser beginnen. Es sind viele Arbeitsschritte nötig, bis ein solches Männchen fertig ist. Die Köpfe werden bemalt, eine rote Nadel steckt als Nase in der Nuss. Kleidchen und Schürzen werden geschneidert, winzige Schals und Mützen gestrickt. Manche Hüte basteln die Schellers selbst, andere kommen aus dem Bastelbedarf. Dort beziehen sie auch Utensilien wie winzige Feuerlöscher für die Feuerwehrleute oder Stethoskope für medizinisches Personal. Neben den Klassikern entstehen auch Fußballfans oder Brautpaare.
Wer in Nürnberg aufgewachsen ist, kann meist ohne nachzudenken einen Spruch zu den Zwetschengenmännla auswendig: „Willst ann, der di ned ärgern ko, kafst da halt an Zwetschermo“. Willst du jemand, der dich nicht ärgert, dann kaufe dir doch einen Zwetschgenmann, das ist ein solcher Vers. Den kennt auch der Künstler Walter Bauer, der schon als Kind in die Zwetschgenmännla vernarrt war und bis heute ein Fan ist und „zeitgenössische Varianten“ malt.
Schon als Kind sei er auf einer Leiter gestanden und habe das weihnachtliche Treiben bestaunt, erzählt er. Die Figuren aus den trockenen Früchten bewunderte er da schon sehr. „Schon in Fürth gibt die nicht mehr“, stellt er fest. Eine ähnliche Tradition ist aber in Dresden zu finden. Dort ist der „Pflaumentoffel“ ein Mitbringsel vom „Striezelmarkt“.
Die Herkunft der dunklen kleinen Wesen in Nürnberg geht wohl auf eine Stadtlegende zurück, die Bauer so kennt: Ein alleinstehender Drahtzieher, also ein Handwerker, der Draht für Kettenhemden von Soldaten herstellte, war krank geworden. Eine Gruppe Kinder soll an jedem Tag vor sein Haus an der Stadtmauer gezogen sein und gesungen haben, bis er wieder gesund war. Zum Dank dafür fertigte der Drahtzieher den Kindern eine Puppe aus getrockneten Früchten. In Helga Schellers Version der Geschichte haben die Kinder dem Drahtzieher jeden Tag Essen gebracht. Im Nürnberger Stadtlexikon steht, dass in der Stadt eine solche Figur aus Trockenfrüchten erstmals 1790 belegt ist. Sie habe einen spitzen Hut getragen und einen Bauchladen gehabt, der mit Buntpapier bespannt war, heißt es dort.
In der Nachfolge des ersten unbekannten Drahtziehers sitzt heute Julian Scheller mit seiner Mutter an einem Arbeitsplatz so groß wie eine Tischtennisplatte. Vor sich haben sie Eierkartons mit vorbereiteten Köpfchen – mit Bärten, ohne Bärte. Kleine Leitern liegen in einer Plastikbox und schwarze Minizylinder in einer anderen. Die Heißklebepistole ist ständig im Einsatz, um fitzelig kleine Details an die Figuren heften. Das Bastelfieber befällt sogar gestandene junge Männer, wie Julians Freund, der nur zum Quatschen vorbeikommen wollte und nun auch im Keller sitzt, Bärte an Nüsse pappt und diese sorgfältig ablegt. Jede Hand wird gebraucht, damit die Stände in der Christkindlesmarktzeit gut bestückt sind.
Auf dem Markt haben die Zwetschgenmännla-Verkäufer besondere, seit Jahrzehnten festgelegte Plätze am Schönen Brunnen und der Krippe. Weil ihre Buden Eigenbauten seien, in denen die Figuren auf mehreren Etagen präsentiert werden, reihen sie sich nicht in die homogenen Budenstraßen ein, erklärt Marktamtsleiter Marco von Dobschütz. Sein Amt prämiert seit 1981 mit einem „Goldenen Zwetschgenmo“ alljährlich den schönsten Stand des ganzen Christkindlesmarkts.
Neben den Einheimischen sind es oft Touristen aus Italien und aus den USA, die sich von den Zwetschgenmännla faszinieren lassen, berichtet Helga Scheller. „Es gibt Leute, die stehen lange vor dem Stand und schauen sich alles haarklein an, die sehen, das ist selbst gestrickt, das ist selbst genäht.“ Aber es gibt auch die Passanten, die auf die Männchen zeigen und „Made in China“ schimpfen. „Aber die, die was vom Handwerk verstehen, die sehen, da steckt wirklich Arbeit drin“, sagt Scheller. Sie verkauft auch Sonderbestellungen und hat einen Online-Shop. „Aber von Januar bis August hört das abrupt auf“ – die Saison ist vorbei. (00/3746/26.11.2024)