Als das Fernsehen noch riskant war: “3nach9” wird 50
Krawall-Talkshows erfreuten sich zeitweise bei Privatsendern einiger Beliebtheit, aber auch in öffentlich-rechtlichen Gesprächsrunden ging es früher schon mal handgreiflich zu. Die Talkshow „3nach9“ von Radio Bremen feiert ihren 50. Geburtstag und in einem Rückblick darf der Auftritt des Kommunarden Fritz Teufel und des Finanzministers Hans Matthöfer (SPD) 1982 nicht fehlen: Teufel bespritzt den Minister mit „Zaubertinte“ aus einer Wasserpistole, Matthöfer kippt Teufel Rotwein über das Hemd.
Wirklich brenzlig wurde es aber beim Auftritt des rechtsextremen Politikers Franz Schönhuber 1990. Wütende Demonstranten warfen Steine und sorgten beinahe für einen Abbruch der Sendung. „Man kann sich heute noch fragen, ob es richtig ist, in eine Unterhaltungssendung jemanden wie Franz Schönhuber einzuladen“, sagt „3nach9“-Moderator Giovanni di Lorenzo rückblickend im Jubiläumsfilm „50 Jahre 3nach9 – Die Mutter aller Talkshows feiert Geburtstag“, den NDR und Radio Bremen am 15. November zeigen.
In die Erinnerung an die turbulentesten Momente mischt sich aber auch Sehnsucht nach den wilden Zeiten des Fernsehens, als Redaktionen noch ohne Furcht vor schwachen Einschaltquoten und ohne Rücksicht auf empörte Reaktionen experimentierten. Das kleine Radio Bremen war ganz vorne mit dabei, galt vor allem in den 1970er und 1980er Jahren als kreative Ideenschmiede und schmückt sich noch heute gerne damit.
Die „Mutter aller Talkshows“ nennt sich „3nach9“, weil sie „die am längsten laufende Talk-Sendung Deutschlands“ ist, wie der Sender zutreffend schreibt. Dennoch ist die „Mutter“-Bezeichnung mindestens irreführend, denn bevor das neue Unterhaltungsformat am 19. November 1974 an den Start ging, war die WDR-Talkshow „Je später der Abend“ mit Dietmar Schönherr bereits eineinhalb Jahre auf Sendung. Allerdings hielten die Kölner Pioniere nur fünf Jahre durch.
In Bremen setzten Programmdirektor Dieter Ertel und Regisseur Mike Leckebusch („Beat-Club“, „Musikladen“) mit „3nach9“ bewusst auf eine Mischung aus Werkstatt- und Kneipen-Atmosphäre mit Live-Risiko. Ein Moderatoren-Trio interviewte die Gäste an einzelnen Tischen, das Publikum gruppierte sich locker im Raum, Regiepult und Kameras waren sichtbar.
In der Sendung „stritt ein Hausbesetzer mit dem Wohnungsbauminister, ein Schaf pinkelte ins Studio, ein Kameramann ließ seine Kamera stehen, um mit Wienerwald-Chef Jahn zu diskutieren. Und die Redaktion kommentierte das Chaos in den ersten Jahren mit bissigen Untertiteleinblendungen“, notierten Michael Reufsteck und Stefan Niggemeier in ihrem 2005 veröffentlichten „Fernsehlexikon“.
Musik spielt seit 50 Jahren eine besondere Rolle: Bei „3nach9“ hatte beispielsweise Amy Winehouse 2004 ihren ersten TV-Auftritt in Deutschland. Vier Jahrzehnte lang sorgte der 2017 verstorbene Pianist und Filmkomponist Gottfried Böttger im „3nach9“-Studio für aufgeräumte Bar-Atmosphäre.
Den Moderations-Anfang machten Autor Wolfgang Menge („Stahlnetz“, „Ein Herz und eine Seele“), „Panorama“-Gründer Gert von Paczensky sowie die Schauspielerin und Ärztin Marianne Koch, die der Show wie Menge bis 1982 treu blieb. Koch ist auch am 15. November im Alter von 93 Jahren Gast bei „3nach9“. Ausnahmsweise wird aus dem Radio-Bremen-Funkhaus mal wieder live ab 22 Uhr gesendet und nicht ab 18 Uhr „live on tape“ aufgezeichnet wie sonst. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und Schauspielerin Iris Berben sind dabei.
Auf Marianne Koch folgten die Moderatorinnen Carmen Thomas, Lea Rosh, Juliane Bartel, Randi Crott und Amelie Fried. Die Berufung der „Feuchtgebiete“-Autorin Charlotte Roche löste 2009 Empörung im konservativen Bremer Lager aus. Die Zeit für Experimente war offenbar vorbei: Roche hielt nur fünf Shows an der Seite von Giovanni di Lorenzo durch.
Der heutige „Zeit“-Chefredakteur ist seit 1989 dabei und der dienstälteste Moderator. Er blickt nicht ohne Selbstkritik zurück: Er erinnere sich „an die vielen Gespräche, die ich vergeigt habe“. Seit 2010 harmoniert der 65-Jährige mit Judith Rakers, die bis Januar 2024 auch „Tagesschau“-Sprecherin war.
Längst gehört der Freitags-Talk zu der Sorte Fernsehen, die der Prominenz eine verlässliche Bühne baut. Sechs Gäste, die für ihr neues Buch, ihren neuen Film, neuen Song oder ihre neue Sendung werben wollen, bieten ein Wohlfühlprogramm zum Wochenausklang. Manchmal reden sie sich auch um Kopf und Kragen, etwa als Schauspieler Sky du Mont 2023 derart unsachgemäß über Milchviehhalter herzog, dass empörte Landwirte vor der nächsten „3nach9“-Sendung mit 100 Traktoren anrückten.
Aber dass die Gäste viel vorsichtiger geworden seien, bemerkte di Lorenzo schon vor fünf Jahren: „Umso mehr müssen sich Moderatoren abmühen, den Gästen etwas zu entlocken“; sagte er damals laut Medienberichten. Das größte Kompliment im Glückwunsch-Chor zum 50. stammt daher von Kollegin Sandra Maischberger: „Man sagt in dieser Sendung Dinge, die man unbedingt nicht sagen wollte.“