“Allein schon die Vorstellung ist gruselig”

Die Krimiautorin Franziska Steinhauer hat 2017 einen Roman über den Fall von Fritz Haarmann herausgebracht. Darin bettet sie eine fiktive Handlung in den historischen Rahmen ein. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) versucht die Pädagogin und Forensikerin aus Cottbus zu ergründen, was den Fall Haarmann bis heute für viele Menschen so faszinierend macht.

epd: Frau Steinhauer, das Interesse am Fall Haarmann ist seit 100 Jahren ungebrochen. Es gibt Filme und Theaterstücke, Lesungen und Führungen. Wie erklären Sie sich die große Resonanz?

Franziska Steinhauer: Ich denke, es sind nach dem Prozess viele Fragen offen geblieben. Aber ganz sicher ist es eben einfach die unglaubliche Erkenntnis, dass ein solch brutaler Täter mitten in der Gesellschaft leben kann, einen Mord nach dem anderen begeht und eine Zeit lang schlicht nicht verhaftet wird. Retrospektiv muss man anerkennen, dass sehr viele Menschen zumindest geahnt haben, was Haarmann in seiner Stube getan hat.

Die Vorgehensweise war für die damalige Zeit geschickt gewählt. Es strandeten unglaublich viele Kinder und junge Männer in Hannover, wollten von dort aus in eine hoffnungsvolle Zukunft aufbrechen. Sie folgten dem Mann mit dem angeblichen Polizeiausweis gern. Morde von Männern an Frauen waren bekannt, Morde im homosexuellen Milieu dagegen nicht. Das Viertel, in dem Haarmann wohnte, bot ihm zusätzlich Schutz, weil viele Menschen damals nebenbei illegale Geschäfte tätigten, in Schiebereien verwickelt waren. Schau ich nicht nach dem Dreck an deinem Stecken, schaust du nicht nach meinem.

epd: Spielt auch der Gruselfaktor eine Rolle?

Steinhauer: Bei den Taten gab es retrospektiv sicher einen erheblichen Gruselfaktor. Schon die Anzahl der Opfer, die zwischen 24 und 100 schwankte, weil der Täter sich nicht mehr genau erinnern konnte oder wollte, war monströs. Und der Täter erzählte unbeteiligt über sein Vorgehen nach der Tat, dem Zerstückeln der Leichen, dem Verstreuen der Knochensplitter, die er beim Spaziergang längs der Leine in den Boden trat. Viele Menschen, die bei Haarmann Fleisch, Wurst oder Kleidung gekauft hatten, mussten sich fragen, ob sie etwa Menschenfleisch konsumiert hatten oder den Mantel eines der Mordopfer trugen. Wahrscheinlich konnten sich viele nicht sicher sein, Nutznießer der Morde geworden zu sein. Allein diese Vorstellung schon ist für uns gruselig.

epd: Die Figur Haarmann ist ja teilweise in die Alltagskultur eingedrungen. Es gibt das Haarmann-Lied, Fußball-Fans aus Hannover schwenken Fahnen mit Haarmann als Drohfigur, und in einem Wimmelbild-Adventskalender aus Hannover dient Haarmann mit Hackebeil jedes Jahr als „Running-Gag“. Wird der Serienmörder aus Ihrer Sicht verharmlost?

Steinhauer: Wenn die Figur Haarmann benutzt wird, bedeutet das meiner Meinung nach, dass man den vielen Opfern und deren Familien zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Man fokussiert sich zu sehr auf den Täter.