Ärztin und Autorin über das „Glück des Zuhörens“

Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Belastungen. Um so wichtiger, dass ihnen jemand zuhört, meint Lisa Federle. Am Montag erscheint das neue Buch der Notärztin, die im Corona-Jahr 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Federle über belastende Einsätze, veränderte Beziehungsmodelle und die Freude an kleinen Dingen.

KNA: Frau Federle, oft heißt es, wir hätten das Zuhören verlernt. Warum ist Zuhören so wichtig?

Lisa Federle: Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig – und langsam machen sich die Auswirkungen sichtbar, die es hat, wenn wir zu wenig zuhören. Wer nicht zuhört, dem fällt es schwerer, sich in andere hineinzuversetzen. Irgendwann sieht man nur noch sich selbst.

KNA: Kann man das Zuhören trainieren?

Federle: Das kann man – und wenn man es tut, hat das einen wahnsinnigen Wert für einen selbst. Wenn ich jemandem intensiv zuhöre und mich in die Situation dieser Person hineinversetze, hilft das einerseits meinem Gegenüber. Menschen spüren, wenn man wirklich Anteil nimmt und sich Gedanken um sie macht. Andererseits lerne ich etwas für mein eigenes Leben, übe mich in Toleranz. Das ist sehr wichtig, kommt aber durch schnelle und indirekte Kommunikation immer mehr abhanden.

KNA: Inwiefern?

Federle: Wenn ich eine SMS schreibe, kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Wenn ich dagegen einen Satz ausspreche, schwingt viel mit in der Betonung, in der Stimme. Wer zuhört, spürt genauer, was ich sagen oder nicht sagen will. In unserer schnelllebigen Zeit gehen viele dieser Zwischentöne unter. Dabei bräuchten wir genau davon mehr, um uns gegenseitig besser zu verstehen.

KNA: Die Sozialen Medien haben nicht nur die Kommunikation verändert. Über sie erreichen uns auch viele belastende Nachrichten zu Krieg, Klimakrise und Inflation …

Federle: Ich erlebe mehr Menschen, die deprimiert sind: Sie fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert. Helfen kann oft schon ein gutes Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin. Natürlich kann nicht jeder alle Probleme bewältigen, das geht nicht. Aber wir können uns an kleinen Dingen freuen und auch Stärke daraus ziehen.

KNA: Bräuchte es also mehr vorbeugende Angebote, damit belastende Situationen nicht zu ausgewachsenen gesundheitlichen Krisen werden?

Federle: Ja. Und wir müssen wieder eine Mitte finden – momentan rutschen wir von einem Extrem ins andere. Ein Beispiel: Viele Menschen wissen nicht mehr, wie man eine kleine Wunde versorgt – und rufen den Rettungsdienst. Das Gefühl einer großen Krise stellt sich viel schneller ein. Wir haben uns abgewöhnt, Probleme selbst zu lösen. Natürlich sind Rettungskräfte, Ärzte und Psychologen sehr wichtig. Es gibt aber auch Situationen, in denen gute Gespräche mit einer Freundin oder mit dem Partner dazu beitragen, dass wir selbst eine Lösung finden.

KNA: Ein Plädoyer für mehr Eigenverantwortung?

Federle: Wir haben zu schnell das Gefühl: „Oh, das kann ich nicht, das muss jemand anders für mich lösen.“ Das wird auf Dauer schwierig. Viele Menschen schieben zum Beispiel alle Verantwortung auf den Staat. Aber jede und jeder Einzelne muss auch selbst schauen, wie man mit schwierigen Situationen umgeht.

KNA: Umgekehrt mehren sich die Berichte, dass Rettungskräfte beschimpft und bei Einsätzen behindert werden. Wie passt das zusammen?

Federle: Hier bräuchte es mehr Demut und Ehrfurcht vor diesen Berufen. In meinem Buch erzähle ich von einem Ehemann, der den Notarzt gerufen hat, weil er dachte, seine Frau wäre tot. Als wir vor Ort waren, hat sich herausgestellt, dass sie sich totgestellt hatte, um ihm einen Schreck einzujagen. Da fragt man sich, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Es ist kein Spaß, den Notarzt oder den Rettungsdienst zu rufen. Wenn dann woanders jemand einen Herzinfarkt hat, fehlen die Einsatzkräfte dort. Im Notfall soll man nicht zögern, den Notarzt zu rufen. Aber ein Ehestreit ist kein solcher Notfall.

KNA: Welche Rolle spielt es, dass Menschen sich immer häufiger bei „Dr. Google“ informieren, Krankheitssymptome also im Internet recherchieren?

Federle: Es ist in Ordnung, wenn Patienten sich informieren. Erstens kann sich auch eine Ärztin einmal täuschen, und zweitens ist es immer gut, wenn jemand mitdenkt und Verantwortung übernimmt. Schwierig wird es allerdings, wenn Menschen sich fixieren – und überzeugt sind, dass eine Hirnblutung der Grund für ihre Kopfschmerzen sein muss. Ihnen diese Angst zu nehmen, ist nicht einfach. Im Netz finden sich alle möglichen Thesen und natürlich auch falsche Angaben, eine gewisse Skepsis ist also ratsam.

KNA: Sie beschreiben auch einen Wandel von Beziehungs- und Familienmodellen. Zugleich gibt es immer noch recht festgelegte Vorstellungen wie „bis 30 muss man die Liebe gefunden haben“ …

Federle: Es ist wunderschön, wenn Menschen 50 Jahre lang verheiratet sind. Trotzdem glaube ich, dass wir auf diesem Feld viel mehr Toleranz und Einfühlungsvermögen brauchen. Wir werden älter und bleiben länger gesund als in früheren Zeiten. Dadurch haben sich die Grenzen verschoben, wann man jemanden kennenlernen und glücklich werden kann. Insofern beschneidet man das eigene Leben, wenn man sich ständig vermeintliche Grenzen vor Augen hält.

Ein Beispiel: Ich habe einen Patienten, dessen Frau dement geworden ist. Er liebt sie und kümmert sich rührend um sie, obwohl er kaum noch mit ihr kommunizieren kann. Diese Kraft findet er nur, weil er auch eine Geliebte hat, mit der er Momente der Nähe und Freude teilt. Jemanden in dieser Lage zu verurteilen, ist mindestens voreilig. Es täte uns gut, wenn wir uns klarmachen würden, wie viele Situationen wir eigentlich gar nicht beurteilen können.

KNA: Allerdings gibt es auch belastende Beziehungen.

Federle: So wie gute Beziehungen stärken können, können schlechte Beziehungen krankmachen. Das ist den Betroffenen oft nicht bewusst. Wichtig ist, in sich hineinzuhören – und Warnzeichen ernstzunehmen. Manche Menschen leiden über Jahre an Kopfschmerzen, Verspannungen oder Bluthochdruck – fragen sich aber nicht, ob das auch mit ihrer Beziehung zusammenhängen könnte. In solchen Situationen kann es sinnvoller sein, einen Schlussstrich zu ziehen.

KNA: Sie selbst führen ein turbulentes Leben mit Belastungen wie manchen Notarzt-Schichten. Ihr Tipp, um ausgeglichen zu bleiben?

Federle: Da komme ich wieder auf das Zuhören: Wenn ich von meinem Glück etwas abgebe, kommt auch wieder etwas zurück. Menschen sind oft sehr dankbar, wenn man ihnen geholfen hat. Und dafür muss man weder Ärztin sein noch Geld haben. Man kann dem einsamen Nachbarn ein paar Pfannkuchen vorbeibringen und eine Viertelstunde bei ihm sitzen. Solche einfachen Dinge machen das Leben schön.