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Adventskalender: Zwischen Begegnung und Kommerz

Lieder wie „Es ist für uns eine Zeit angekommen“, „Viva la musica“ und „Vem kan segla“ – ein schwedisches Volkslied – tönen durch den großen Probenraum. Als die Tür aufgeht, weht der Duft frisch gebackener Waffeln hinein. Im Bürgerhaus in Hannover-Misburg sind rund 15 Menschen zusammengekommen, um gemeinsam zu singen. Was aussieht wie eine normale Chorprobe, ist Teil eines „lebendigen Adventskalenders“. „Es stiftet ein Miteinander, viele Menschen sind allein oder von Einsamkeit betroffen“, sagt Karin Fallnich. Die 54-Jährige kommt regelmäßig zum „offenen Singen“.

Sogenannte lebendige Adventskalender sind „ein Zusammenkommen, eine Gemeinschaftsform, die an Gottesdienstliches erinnert“, sagt Johannes Goldenstein, Referent für Gottesdienst und Liturgie der Vereinigten Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands. „Es ist etwas anderes, als in einer Gruppe auf den Weihnachtsmarkt zu gehen.“ Der Anlass bringe Menschen aus dem Stadtteil oder Dorf zusammen, die sonst nicht so viel miteinander zu tun haben oder sich gar nicht kennen.

Karin Fallnich gefallen gemeinsame Aktionen besser als die materiellen Adventskalender. „Nicht immer dieses ‚Höher, schneller, weiter‘, wie es in manchen Familien ist, sodass man das Gefühl hat, die Geschenke kommen schon in der Adventszeit und nicht an Weihnachten“, sagt sie.

Laut dem Deutschen Weihnachtsmuseum in Rothenburg ob der Tauber wurde der älteste gedruckte Adventskalender 1900 für Carl Straub in München produziert. 1926 kam dem Weihnachtsmuseum zufolge der erste Adventskalender mit Schokolade auf den Markt. Mittlerweile sind Adventskalender ein Milliardengeschäft.

Neben den klassischen, mit Süßigkeiten befüllten Kalendern gibt es solche mit Spielzeug, Parfüm oder Werkzeug. Viele Marken bieten eigene Adventskalender an. „Für Unternehmen dient das der Neukundengewinnung“, erklärt Kai Widdecke, Professor für Marketing an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. „Es sind 24 kleine Produkte, die Kunden dann durchtesten können, und die Wahrscheinlichkeit steht nicht schlecht, dass mindestens eines dieser Produkte den Kunden gefällt.“

Manche Anbieter machten 60 bis 70 Prozent ihres Jahresumsatzes mit Adventskalendern. Die wahrgenommene Flut an Adventskalendern habe 2020 ihren Höhepunkt erreicht und sei seitdem auf konstant hohem Niveau. Dies ergebe sich aus der Anzahl der Internetsuchen nach „Adventskalendern“, sagt Widdecke.

Einer Online-Umfrage des Marktforschungsunternehmens YouGov zufolge bevorzugen 60 Prozent der rund 2.000 Befragten für sich selbst Adventskalender mit Süßigkeiten. Auf Platz zwei landen Beauty- und Kosmetikkalender mit 20 Prozent. Nachfolgend sind auch Getränke (16 Prozent) und Lebensmittel-/Feinkost-Kalender (15 Prozent) beliebt. 11 Prozent der Befragten freuen sich über Bild- und Wort-Kalender mit Gedichten, Sprüchen oder Märchen.

Widdecke zufolge ist der Überraschungseffekt zentral. „Für viele gehört zu einem Adventskalender das Türchen. Idealerweise sieht man das Produkt vorher nicht, bevor man es öffnet.“ Doch der Inhalt hinter dem Türchen könne auch enttäuschen. „Es sind 24 Momente der Wahrheit in 24 Tagen.“

Für Marken sei die langfristige emotionale Aufladung besonders wichtig. „Adventskalender wecken bei uns, seit wir Kinder sind, wunderbare Assoziationen wie Vorfreude“, erklärt der Marketing-Experte. Aus Unternehmenssicht seien das wünschenswerte Effekte, weil die Kunden dadurch positive Erlebnisse mit der Marke verbänden. Zudem könnten Adventskalender Kindern eine zeitliche Orientierung geben.

Hobby-Sängerin Ela Popp, die ebenfalls den „lebendigen Adventskalender“ in Hannover besucht, erinnert sich gerne an dieses Kindheitserlebnis zurück. Ihre Mutter hatte für die sechs Geschwister Beutelchen gebastelt und alljährlich zur Adventszeit befüllt. Die jüngeren Brüder schauten manchmal im Vorhinein, was es am nächsten Tag geben wird. „Da haben wir gesagt: Du sollst doch nicht gucken, wenn der Weihnachtsmann das sieht, gibt es keine Geschenke“, erinnert sich die 69-Jährige.

In diesem Jahr hat sich Popp den Adventskalender „Der andere Advent“ des gemeinnützigen Vereins „Andere Zeiten“ gekauft: einen DIN-A4-Block mit Illustrationen, Bildern und Texten. „So hast du jeden Tag eine Freude, wenn du aufstehst und guckst, was gibt es heute.“

Ursprünglich sei die Adventszeit auf Zurückhaltung angelegt, erklärt Theologe Johannes Goldenstein. Das Zählen von eins bis 24 und die einzelnen Gaben dienten der Vorbereitung auf das große Fest. Der Adventskalender sei „ein bisschen, wie durchs Schlüsselloch gucken in das verschlossene Weihnachtszimmer“, sagt er. Hinter jedem Türchen oder Fensterchen fände sich eine erste Idee dafür. „Und an Heiligabend ist da der Weihnachtsbaum mit all den schönen Lichtern. Es ist ein großes Crescendo, wenn man so will.“