Von Jan RohlsIm Rückblick bringt der reformierte Schweizer Theologe Karl Barth die entscheidende Wende in seinem theologischen Denken, den Abschied von der liberalen Theologie, in einen direkten Zusammenhang mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914: „Mir persönlich hat sich ein Tag am Anfang des Augusts jenes Jahres als der ,dies ater‘ eingeprägt, an welchem 93 deutsche Intellektuelle mit einem Bekenntnis zur Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. und seiner Ratgeber an die Öffentlichkeit traten, unter denen ich zu meinem Entsetzen auch die Namen so ziemlich aller meiner bis dahin gläubig verehrten theologischen Lehrer finden musste.“ Eine ganze Welt von Theologie, die er bis dahin für glaubwürdig gehalten habe, sei damals bis auf die Grundlagen ins Schwanken geraten. Barth spielt auf den „Aufruf an die Kulturwelt“ an, ein an Luthers 95 Thesen angelehntes Manifest.Der Aufruf war der hilflose Versuch, das im Westen heftig kritisierte Vorgehen Deutschlands im Krieg – den Einfall ins neutrale Belgien, das brutale Vorgehen gegen die dortige Bevölkerung und die Zerstörung der alten Stadt Löwen mit ihrer berühmten Universität – zu rechtfertigen. Unterzeichnet war er von 93 Künstlern und Intellektuellen, darunter auch protestantische Theologen wie Adolf Schlatter und Reinhold Seeberg. Von Barths theologischen Lehrern finden sich jedoch nur die Namen Adolf von Harnacks und Wilhelm Herrmanns. Bei der kurz darauf in ähnlichem Ton gehaltenen „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“, verfasst von dem Altphilologen Wilamowitz-Moellendorff, bekannten sich dann allerdings fast alle deutschen Theologieprofessoren unter anderem zu dem Glauben, „dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ,Militarismus‘ erkämpfen wird“. Es war wohl nicht so sehr der Aufruf der 93, der durch ausländische Kriegspropaganda provozierte Schulterschluss zwischen Kultur und Militär, der Barth verstörte, sondern die Haltung der „Christlichen Welt“, des publizistischen Flaggschiffs des Kulturprotestantismus unter Federführung von Martin Rade. Er warf dem befreundeten Marburger Theologen, der eine durchaus gemäßigte Haltung einnahm, eine Vermischung von Patriotismus, Kriegslust und christlichem Glauben vor, eine Funktionalisierung Gottes für den deutschen Sieg. Als Barth, dem Schweizer religiösen Sozialismus um Hermann Kutter und Leonhard Ragaz verbunden, sich mit der Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten zu den Kriegskrediten dann auch noch in seinem Glauben an die gute Sache des Sozialismus enttäuscht sah, gelangte er zu der Auffassung, dass „die Welt als Ganzes unserer Lebensbedingungen gottlos ist, dem Jesus offenbar ebenfalls als ein geschlossenes Ganzes gegenübersteht“. (…)
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Der Text ist dem aktuellen THEMA-Heft „Apokalypse Erster Weltkrieg“ entnommen.Bestellungen:vertrieb@wichern.deTel. (030) 2887 48 16