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Abgrundtief verletzt

Wenig trifft Menschen so schwer wie ein Verrat. Der wohl bekannteste Verräter war Judas in der biblischen Passionsgeschichte. Seine Rolle ist voller Rätsel. Er gilt zwar als Prototyp des Verräters, doch der Blick auf ihn und den Verrat ist gespalten

Narong Jongsirikul - Fotolia

Mit einem Kuss verrät er den Sohn Gottes im Garten Gethsemane und kassiert dafür 30 Silberlinge. Noch nicht einmal 24 Stunden später stirbt Jesus qualvoll am Kreuz. Nach dieser biblischen Überlieferung gilt Judas Ischariot als der Verräter schlechthin. Begriffe wie „Judaskuss“ und „Judaslohn“ sind als geflügelte Worte in den Sprachgebrauch eingegangen. Judas steht seither auch für die Sünde, die in jedem Menschen steckt. Und doch ist seine Rolle umstritten, nicht nur unter Theologen.

Judas wollte Jesus zum Handeln zwingen

„Schon die Bibel ist widersprüchlich, wenn es um Judas geht“, sagt Bremens leitender evangelischer Theologe Renke Brahms. „Nach dem Matthäusevangelium hat er seine Tat bereut und versucht, den Tod Jesu zu verhindern, nach der Apostelgeschichte ist davon nicht die Rede.“ Diskutiert wird auch über Judas als denjenigen, der das Ostergeschehen und das Opfer von Jesus überhaupt erst ermöglicht hat. Und über Judas als Grundfigur für antisemitische Stereotype.
Jesus sei so bekannt gewesen, dass es eigentlich keines „Judaskusses“ bedurft hätte, ergänzt Brahms, der auch Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Es sei Judas vielmehr darum gegangen, die Situation zuzuspitzen: Er wollte Jesus dazu drängen, Position zu beziehen, zu den Waffen zu greifen und sich mit Gewalt zu wehren.
„Insofern ist Judas mit seinen Zweifeln an Jesus und dem Drang, ihn zu einer machtvollen Demonstration zu zwingen, vielleicht auch eher ein Opfer eines teuflischen Kreislaufes von Gewalt und Verrat, Macht und Zwang“, sagt Renke Brahms.
Die Debatte angeheizt hat der 2013 gestorbene Schriftsteller und Intellektuelle Walter Jens, der 1975 in seinem Buch „Der Fall Judas“ einen Apostel darstellt, der verzweifelt seine Rehabilitation fordert. Er sei kein Verräter, sondern ein fester Posten in Gottes Rechnung mit der Menschheit, heißt es da.
Darauf fußt auch das Solo-Stück „Ich, Judas“, mit dem der Schauspieler Ben Becker seit einiger Zeit erfolgreich durch Deutschland tourt. Das Thema fasziniere ihn, weil jeder Schuld und Verrat in sich trage, sagt Becker: „Damit muss man sich ganz offen auseinandersetzen.“
In Geschichte und Gegenwart finden sich viele Beispiele für Menschen, die Verrat begingen: Brutus verriet Caesar, Günter Guillaume als Referent im Bundeskanzleramt Staatsgeheimnisse an die DDR. Der israelische Nukleartechniker Mordechai Vanunu verriet das Atomprogramm seiner Heimat, der Whistleblower Edward Snowden machte Informationen des US-Auslandsgeheimdienstes NSA öffentlich.
Auch im persönlichen Umfeld spielt Verrat eine zentrale Rolle. „Das ist bei uns ein großes Thema“, berichtet Pastor Ulrich Leube, Leiter der Familien- und Lebensberatung der Bremischen Evangelischen Kirche. Wohl am schlimmsten ist der Seitensprung: Er verrät die Liebe des anderen und verletzt ihn abgrundtief.
Menschen fühlen sich auch verraten, wenn Loyalität fehlt oder gemeinsame Ideale und Träume nicht mehr gelten: „Zum Beispiel der Traum vom gemeinsamen Alt-Werden“, sagt Leube.
Wenn ein solcher Verrat in einer Beziehung begangen wurde, ist es nach Auffassung des Lebensberaters wichtig, darüber zu reden. „Die Kränkung muss thematisiert werden, um damit umgehen zu können. Vielleicht kann der Verrat durch ein neues Versprechen überwunden werden.“
Besser sei es allerdings, dem Verrat vorzubeugen und das gegenseitige Versprechen, zueinander zu stehen, öfter zu erneuern, betont Leube. Gerne auch mit Ritualen wie dem morgendlichen Abschiedskuss oder mit Komplimenten. Der Theologe erinnert sich an eine tränenreiche Szene in der Beratung, in der ein älterer Mann erstmals nach 23 Jahren Ehe seiner Frau sagte: „Ich finde es so schön, wenn du lachst.“
Anders sieht das in totalitären Systemen und bei Machtmissbrauch aus. Da seien Verräter wichtig, meint Brahms. „Das sind ja Whistleblower, die Dinge transparent machen.“ Judas allerdings könne man damit nicht in Verbindung bringen.
Wichtiger scheint Brahms die Frage, ob jemand eigene Ideen oder den Freund aus Gründen der Macht verrät. „Judas war ja ein enger Freund und Begleiter Jesu – und hat offenbar nicht verstanden, dass Jesus seine Macht in Liebe und Hingabe sieht und nicht in Stärke. Frieden wird eben letztlich nicht durch Macht, sondern durch Verständigung.“

Petrus bereut und bekommt eine zweite Chance

Als einer seiner Freunde Jesus mit dem Schwert gegen den Knecht des Hohepriesters verteidigen will, hält Jesus ihn zurück: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“
Vielleicht verweist die biblische Petrus-Geschichte auf eine Alternative zu Judas. Petrus verleugnet Jesus, als er gefragt wird, ob er denn auch zu Jesus gehöre. Er bereut es bitterlich, weint, bringt sich aber nicht wie Judas um, sondern erhält eine zweite Chance. Brahms sieht es so: „Wie er drei Mal Jesus verleugnet, darf er sich später drei Mal zu Jesus bekennen. Aus diesem fehlbaren Menschen wird der Fels der Kirche. Das ist doch eine tröstliche Geschichte für uns.“

Hörbuchhinweis: Ben Becker spricht die Verteidigungsrede des Judas Ischariot von Walter Jens. Herder-Verlag Freiburg, 19,99 Euro