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Abgelehnt, aussortiert, übersehen – nur wegen der Lebensjahre?

Kränkende Bemerkungen, verweigerte Kredite, verlorene Jobs: Altersdiskriminierung hat viele Gesichter. Ein Soziologe fordert ein Umdenken: Ältere und alte Menschen brauchen eine neue Rolle – und können Vorbild sein.

Sie ist 62 Jahre alt und arbeitet in einem Steuerberatungsunternehmen; plötzlich darf sie nur noch Post sortieren und Kaffee kochen. Der Grund: Das Büro hat mehrere jüngere Mitarbeitende neu eingestellt, die nun ihre Aufgaben erledigen. – Eine Ärztin möchte ihre Praxis renovieren, bekommt allerdings keinen Kredit von ihrer Bank. Mit 61 Jahren sei sie zu alt, wird ihr gesagt. – Ein 33-jähriger Mann bewirbt sich für eine neue Stelle. Im Gespräch wird er gefragt, ob er mit jüngeren Kollegen und Kolleginnen klarkomme; er sei ja schließlich schon etwas älter. Den Job bekommt er nicht.

Fast jeder zweite Deutsche – 45 Prozent – hat schon einmal Altersdiskriminierung erlebt. Vor allem im Arbeitsleben ist die Benachteiligung älterer Menschen groß. “Älter” ist dabei allerdings relativ. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitut GMS im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vom März dieses Jahres hervor. Die genannten Beispiele sind reale Fälle, sie sind den Beratern der Antidiskriminierungsstelle berichtet worden. Der Behörde zufolge sind seit ihrer Einrichtung im Jahr 2006 mehr als 8.600 Fälle wegen Altersdiskriminierung gemeldet worden.

Der Soziologe Reimer Gronemeyer ist 86 Jahre alt und kennt Altersdiskriminierung aus eigener Anschauung. “Ich bin natürlich ein relativ privilegierter Mensch und von vielen Formen der Altersdiskriminierung nicht betroffen”, sagt er im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Ihn berühren aber die vielen “nochs”, die er in Gesprächen hört: “Ach, Sie reisen noch? Sie halten noch Vorträge? Sie gehen noch wandern?” Neben den großen Geschichten der Altersdiskriminierung spielten sich jeden Tag zahllose kleine Kränkungen ab, “die wie winzige Verletzungen den Alltag des Altwerdens manchmal sauer machen”.

Gronemeyer treibt das Thema um: In seinem kürzlich veröffentlichten Buch “Die Abgelehnten” versucht er zu ergründen, warum Altersdiskriminierung der Gesellschaft schadet. “Wir sind eine jugendorientierte Gesellschaft, die von Innovationen lebt”, sagt der emeritierte Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. “Das hohe Tempo und die Komplexität der notwendigen Anpassungsprozesse überfordern alte Menschen schlicht und einfach”, schreibt er in seinem Buch. “Und grenzen sie damit aus.” Ältere Menschen schienen heute weniger wert zu sein als jüngere.

Da sind etwa mehrere Betroffene, die der Antidiskriminierungsstelle schildern, Schwierigkeiten damit zu haben, telefonisch einen Termin beim Arzt auszumachen. Sie würden auf Apps verwiesen, die sie nicht bedienen können. Gronemeyer nennt das “Nadelstiche in das Selbstbewusstsein alter Menschen.” Der Autor weiß um den Nutzen der Digitalisierung. “Er ist unbestreitbar. Aber es muss dennoch für diejenigen, die dem nicht gewachsen sind, Raum zum Leben bleiben.” Das schließe nicht nur ältere Menschen ein, sondern auch Menschen mit Behinderung oder Geflüchtete.

“Diskriminierung von älteren Menschen schadet unserer Gesellschaft, ökonomisch und menschlich”, sagt der Autor. Ökonomisch, weil hierzulande ein großer Fachkräftemangel herrsche, der den Wohlstand gefährde. Menschlich, weil es zu “Beschädigungen” an der Seele, zu Depressionen führen könne. “Es gehört zum Anstand, zur Moral und Christlichkeit, Menschen nicht auszuschließen”, sagt Gronemeyer, der als promovierter Theologe einst auch als Pfarrer in Hamburg gearbeitet hat.

Ihm zufolge geht es um die Frage, ob die Gesellschaft Alte aussortiert – oder eine neue Rolle für sie findet. Ihm schwebt da schon etwas vor: In Zeiten, in denen viele jüngere Menschen über Überlastung und Erschöpfung klagten, könnten ältere Menschen zum Beispiel zeigen, dass das Leben mit weniger Geschwindigkeit und Druck schön sei.

Dafür brauche es allerdings wieder mehr Begegnungsräume für ältere und jüngere Menschen. Die hätten früher unter anderem Kirchengemeinden geboten, sie seien aber vielerorts weggefallen. Genauso wie ganze dörfliche Strukturen – stattdessen herrschten Einsamkeit und Vereinzelung, mahnt Gronemeyer. Er ist aber hoffnungsvoll: “Zum Glück blüht überall etwas auf, seien es Cafés oder Garteninitiativen für Jung und Alt.”

Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, ist überzeugt, dass Altersdiskriminierung mit dem demografischen Wandel noch zunehmen werde. “Wer Altersdiskriminierung erlebt, sollte sich daher unbedingt beraten lassen”, erklärt sie auf Anfrage der KNA. Es gehe dabei eben nicht nur um deplatzierte Komplimente, sondern – wie auch Gronemeyer betont – um “existenzielle Dinge, wie keine Wohnung zu finden, keinen Job, keinen Kredit, weil man automatisch aussortiert wird nur wegen des Alters”. Für den Soziologen ist es umso mehr ein Abenteuer, “selbstbewusst, nachdenklich und aufsässig alt zu sein”.