83-Jähriger Antiquar macht Leselust auf Social Media
Weder schrill noch oberflächlich, doch auf seine Art provokant: Antiquar Klaus Willbrand erlangt Kultstatus auf Social Media. Der 83-Jährige hat auf junge Menschen eine besondere Anziehungskraft.
Simon und Adam wollen Klaus Willbrand im echten Leben treffen. Die Anfang Zwanzigjährigen sind eigens von Bochum nach Köln-Sülz gefahren. Sie gehören zu den mehr als 100.000 Instagram-Followern des Antiquars. Jetzt stehen sie zwischen den hohen Regalen voller alter Bücher, die sie zuvor nur aus kurzen Social Media-Videos kannten. Darin ordnet, lobt, kritisiert der 83-Jährige Literatur und Literaten. Prägnante Antworten zeugen von einem großen Wissensschatz aus rund 60 Jahren in der Literaturbranche.
Welche Bücher sollten junge Leute lesen? “Homo Faber” und den frühen Böll, um die Nachkriegszeit nachzuempfinden. Welche Werke kann man getrost ignorieren? Zum Beispiel die von Immermann. Welche Schriftstellerin ist unterschätzt? Marieluise Fleißer. Die Begründung folgt.
Unter einer Minute dauern die meisten dieser Aufnahmen auf Tiktok. Trotzdem ist es häufig möglich, dem weißhaarigen Mann in Hemd und Sakko beim Denken zusehen, wenn Daria Razumovych hinter der Kamera eine Frage stellt. Die 32-Jährige hatte die Idee, über Social Media mehr Aufmerksamkeit für den Laden zu erreichen. Sie kommt als Lektorin auch aus der Branche; kennt Willbrand von einem Büchermarkt. Aus einem Gespräch entstand eine Freundschaft.
Razumovych, die auch selbstständige Digitalberaterin ist, regte bereits vor mehr als zwei Jahren zu Social Media-Auftritten an. Im Februar überlegte Willbrand sogar, den Laden zu schließen, da das Geschäft nicht lief. Dann lässt er es im März doch noch auf einen Versuch ankommen.
Zum Glück – denn bereits nach zwei Wochen knackt das Team die 10.000-Follower-Marke auf Instagram. “Das war Wahnsinn”, sagt Willbrand. “Ein Antiquar über 80 auf Instagram und Tiktok.” Razumovych sei viel optimistischer gewesen als er. “Mein Vorurteil hat sich als Irrtum erwiesen”, rekapituliert er. Er sei davon ausgegangen, dass die Kanäle nur etwas für oberflächliche Leute seien. “Doch unter den Millionen dort, gibt es einige hunderttausend, die sich tatsächlich für Literatur interessieren.” Rund Tausend Follower kommen pro Tag hinzu. Täglich neue Videos animieren dazu. Inzwischen sind es auf Instagram, Tiktok und YouTube insgesamt mehr als 200.
Durch diese Online-Präsenz hat Willbrand innerhalb weniger Monate einen besonderen Kultstatus erlangt. Besuche von Followern im Laden sind Alltag geworden. Klaus Willbrand fasziniert junge Menschen offenbar. Woran liegt das? “Ich finde seine Art sehr sympathisch, er macht das mit Ruhe”, sagt Simon. Er habe etwas von einem Großvater, strahle Nähe aus. Adam ist aufgefallen, dass der Antiquar sich stark von anderen Inhalten abhebt – ganz klassisch sei. “Das tut der Zielgruppe gut” sagt er, so zum Lesen zu kommen.
Junge Menschen seien mit Buchhandlungen und Antiquariaten oft nicht vertraut, so Willbrand. “Wir graben das wieder aus”, sagt der Literaturexperte. “Ich kann ja nichts für mein Alter, aber ich denke, dass sie sich dadurch, dass da ein alter Mensch sitzt, der nicht mit Fremdworten um sich wirft, ernstgenommen fühlen.”
Daria Razumovych macht es daran fest, dass Willbrand unwahrscheinlich authentisch sei. Die Aufnahmen entstehen ihr zufolge ohne Skript, weitgehend spontan. Gemeinsames Ziel sei es, die klassische Literatur des 20. Jahrhunderts vorzustellen, die wirklich gut sei. “Einerseits beantworten wir Fragen auf Social Media, andererseits haben wir ein literarisches Konzept”, unterstreicht Razumovych. Beispielsweise planen sie, über die wichtigen Autoren Spaniens, Skandinaviens oder Südamerikas zu sprechen. “Wir mischen aber auch Postings mit persönlichen Infos oder über den Laden darunter”, so Razumovych.
Der noch Anfang des Jahres kaum besuchte Laden floriert wieder. Durch Versand und durch Käufe vor Ort. Simon und Adam kaufen unter anderem Bücher von Charles Bukowski. Sie nehmen Erinnerungsfotos mit dem Antiquar auf. Der Raum mit den vielen Büchern schaffe eine besondere Atmosphäre, ganz im Einklang mit dem Rat des “alten, weißen Mannes”, wie Simon schmunzelnd sagt.
Denn der Antiquar überhöht nicht die Bedeutung seines Fachs, er erklärt es in den Videos: “Muss ich denn diese Literatur gelesen haben? Nein, man muss es natürlich nicht. Aber der Horizont, die Perspektive auf das, was heute geschieht und was heute geschrieben wird, eröffnet sich natürlich ganz anders, wenn man das kennt, was andere vorher gedacht und geschrieben haben.”