Artikel teilen:

50 Jahre KSZE-Schlussakte von Helsinki: Meilenstein oder Papiertiger?

Jubiläen internationaler Organisationen sind immer zweischneidig: Man erinnert sich immer an die hehren Ideale, die zu ihrer Gründung geführt haben. Doch man muss sich auch an das Wenigere erinnern, das tatsächlich erreicht wurde.

SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt unterschrieb als erster. Es folgten die 34 Staats- und Regierungschefs aller europäischen Staaten – mit Ausnahme von Albanien – sowie der USA und Kanadas. Am 1. August 1975, vor 50 Jahren, wurde in Helsinki die Schlussakte der “Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa” (KSZE) unterzeichnet – ein Dokument, das auch angesichts des Krieges in der Ukraine heute hoch aktuell scheint. Ein Blick zurück.

Das Ziel der rund 30.000 Worte schweren Erklärung war damals kein geringeres, als die Beziehungen der Staaten in Ost und West neu zu gestalten. Ihren Befürwortern gilt die Schlussakte von Helsinki bis heute als ein Meilenstein zur Durchsetzung der Menschenrechte in Europa – ihren Kritikern als bloßer Papiertiger und als die Zementierung des Ost-West-Konflikts.

“Unheilige Allianz” und “ein Riesenzirkus” waren noch harmlosere Bezeichnungen in der heftigen politischen und öffentlichen Debatte um Verhandlungen in Helsinki, die im Juli 1973 begannen. Die Unionsfraktion im Bundestag, die schon die gesamte “Neue Ostpolitik” der sozialliberalen Koalition mit harscher Kritik begleitet hatte, argwöhnte, die KSZE diene einer “weltweiten Täuschung über die wahre internationale Sicherheitslage”.

Solche verbalen Geschütze kamen nicht von ungefähr; hatte doch ausgerechnet die Sowjetunion seit mehr als zwei Jahrzehnten eine solche gesamteuropäische Sicherheitskonferenz angestrebt. Ihr unzweifelhaftes Ziel: die Nachkriegsverhältnisse in Europa festzuschreiben und so den sowjetischen Herrschaftsanspruch über die “Brüdervölker” Osteuropas dauerhaft zu sichern.

Zehn Prinzipien sollten die Teilnehmerstaaten von Helsinki fortan in ihren Beziehungen untereinander leiten; darunter Verzicht auf Androhung oder Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zudem sah das Dokument Maßnahmen zur Zusammenarbeit in Wirtschaft, Technik, Wissenschaft und Kultur sowie Erleichterungen in humanitären Fragen vor.

Kritik erfuhr vor allem der extrem große Interpretationsspielraum der Beschlüsse. US-Präsident Gerald Ford gab zu Protokoll, ihm sei vor allem an der Erfüllung der osteuropäischen Zusagen in Menschenrechtsfragen gelegen. Die Sowjetunion dagegen verbuchte als wichtigstes Ergebnis ausgerechnet die Festschreibung des Prinzips der “Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten” der Unterzeichnerstaaten; eine Formulierung, auf die sich Russland wie China noch heute reflexartig berufen, sobald das Wort Menschenrechte auf diplomatischem Parkett auch nur erwähnt wird. So haftete der Helsinki-Schlussakte von Beginn der Makel eines “Tauschgeschäfts” der Blöcke an – mit zumindest strittigem Erfolg für den Westen.

Denn Tatsache ist: Die Regimekritiker in den Staaten Mittel- und Osteuropas, die sogenannte Helsinki-Gruppen bildeten und sich mutig auf die in der KSZE-Schlussakte zugesicherten Rechte beriefen, sollten das spezifisch sozialistische Verständnis der Begriffe Menschenrechte und Demokratie hart zu spüren bekommen: Viele von ihnen verschwanden in Arbeitslagern oder wurden in psychiatrischen Anstalten “behandelt”.

Auch der damalige Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli, Vater der vatikanischen Ostpolitik Pauls VI. und Unterzeichner der KSZE-Schlussakte, konnte mit dem Ertrag des KSZE-Prozesses nur offiziell zufrieden sein: Die Gläubigen in den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas kamen nicht annähernd und höchstens in Details in den Genuss der Zusagen von Helsinki, “sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu einer Religion bekennen und sie ausüben” zu können.

Statt der zugesagten vollen Gewissens- und Religionsfreiheit herrschten bis zur Wende von 1989/90 weiter gesellschaftliche Diskriminierung, berufliche Benachteiligung, planmäßiger Ausschluss vom kulturellen Leben und atheistische Indoktrinierung.

Als Regierungsabkommen haben die Beschlüsse der Helsinki-Schlussakte zu keiner Zeit völkerrechtliche Verbindlichkeit gehabt. Doch das ständige Verhandeln bei zahlreichen KSZE-Folgekonferenzen, das Im-Gespräch-Bleiben, wandelte den fortdauernden Ost-West-Konflikt in eine zumindest halbwegs berechenbare “friedliche Koexistenz”. Auch wenn die Schlussakte sicher nicht, wie einige Protagonisten des Helsinki-Prozesses hartnäckig behaupteten, den Zusammenbruch des Sowjetsystems eingeläutet hat – sie hat doch zumindest einen Beitrag dazu geleistet.

Zwei Beispiele: Die Berufung etwa der Charta 77 auf die Schlussakte von Helsinki überführte das in viele Richtungen interpretierbare KSZE-Dokument, das die Führer des Warschauer Pakts schon als Papiertiger abgelegt hatten, mit einem Schlag in politische Realität. Teile der tschechoslowakischen Intelligenz, die zuvor durch Zensur, Berufsverbot und Verhaftung systematisch gedemütigt und mundtot gemacht worden waren, standen mit diesem Manifest als “Gemeinschaft der Erschütterten” auf.

Oder Karol Wojtyla, Erzbischof von Krakau und später Papst Johannes Paul II.: Er band die Formulierung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die Schlussakte von Helsinki 1975 zusammen zu einem Bündel Dynamit: Religionsfreiheit als positives Menschenrecht, das man einfordern kann.

Im Mai 1977, als Wojtyla nach langem Kampf mit den Kommunisten die Marienkirche in der Krakauer Trabantenstadt Nowa Huta der “Königin von Polen” weihen konnte, predigte er: “Dies ist keine Stadt von Menschen, die niemandem gehören; mit denen man machen kann, was man will (…) Dies ist eine Stadt der Kinder Gottes.” Religionsfreiheit als Menschenrecht.

Die Geschichte der KSZE, die sich 1994 in OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) umbenannte und auf mittlerweile 57 Mitglieder angewachsen ist, ist keine durchgehende Erfolgsgeschichte. Die oft bespöttelte “europäische Anstandsdame”, die 1990 mit der “Charta von Paris” nicht ohne Stolz das Ende des Ost-West-Konflikts verkündete, war auf die neuen Zeiten in den internationalen Beziehungen schlicht nicht vorbereitet.

Schon in den Ernstfällen der 90er Jahre hat sie sich als nicht stark genug erwiesen, regionale Kriege wie in Tschetschenien oder im ehemaligen Jugoslawien verhindern oder steuern zu können – nicht anders im Übrigen als die Nato und die Vereinten Nationen. Der Entsendung zahlreicher OSZE-Beobachter in Krisengebiete ist zumindest eine Übermittlung verlässlicher Informationen zu verdanken. Ihren hohen Anspruch als Instrument der Konfliktprävention und Garantin der Menschenrechte kann die Organisation jedoch auch 50 Jahre nach ihrer Grundlegung nicht wirklich überzeugend einlösen – während neue, große Konflikte aufzuziehen drohen.