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150. Geburtstag von Psychiater Jung – Von Schatten und Selbstfindung

“Kenough” – sogar Barbie und Ken müssen sich im Erfolgsfilm vergewissern, gut genug zu sein. Die Tiefenpsychologie nach Carl Gustav Jung kann helfen, den Selbstwert zu stärken. Der Schweizer wurde vor 150 Jahren geboren.

Das Verdrängte, manchmal Düstere – es wohnt allen Menschen inne. Der Psychiater Carl Gustav Jung nannte diese abgelehnten Eigenschaften den “Schatten”. Als Gegenstück zur bewusst gepflegten “Persona” – dem Bild, das ein Mensch gern von sich zeigt – birgt der Schatten das, was man lieber nicht wäre: wütend, neidisch oder geizig. Zugleich war für Jung klar: Nur wer sich auch mit diesen Persönlichkeitsanteilen befasst, wird ein zufriedener, selbstbewusster Mensch.

Geboren wurde Jung am 26. Juli 1875 als Sohn eines reformierten Pfarrers, der auch beratend an der Psychiatrischen Uniklinik Basel tätig war. Nach einigen Semestern in Medizin, Jura und Philosophie spezialisierte sich Jung auf die Psychiatrie. 1907 begegnete er Sigmund Freud, einer damals längst bekannten, wenn auch umstrittenen Persönlichkeit. Über Jahre tauschten beide sich intensiv aus.

Als Forscher und Professor entwickelte Jung Konzepte, die bis heute großen Einfluss haben: Begriffe wie “Komplex” und “Individuation”, also Selbstverwirklichung, gehen auf ihn zurück. Er analysierte perfektionistisches Streben als Bewältigungsstrategie, die nur kurzfristig hilfreich sei und langfristig Energie raube. Und er beschrieb, wie sogenannte Archetypen sowohl Einzelne als auch die Gesellschaft prägen – zu diesen Vorstellungen zählt laut Jung etwa der “Held”, die “Große Mutter” oder das “göttliche Kind”.

Belastende Träume, wenig Halt in der Familie und Verlustängste – das hatte der Schweizer als Kind selbst erlebt. Die Jung-Expertin Isabelle Meier schildert in ihrem Buch “Gut genug”, wie er mit zehn Jahren einen Ausweg (er-)fand: Er schnitzte und bemalte ein Männchen, das er versteckte. “Es gab damit etwas an einem geheimen Ort, von dem niemand außer ihm etwas wusste”, und dieses Geheimnis gab ihm ein Gefühl von Stabilität.

“Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere”, schrieb Rainer Maria Rilke in den “Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge” (1910). Heute würde man von sozialen Rollen sprechen – und diese beschäftigten auch Jung. Er erklärte, warum Selbstreflexion und die Arbeit an sich selbst niemals umsonst sind: Es gelte zu akzeptieren, “dass, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selber ist, auch wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertigzuwerden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan”.

Das ist bis heute alles andere als leicht. “Das moderne Individuum muss viele Ängste und Unsicherheiten aushalten, zugleich gibt es einen Verlust des Empfindens von Sinn oder Orientierung”, erklärt Meier. Die Lehranalytikerin, Dozentin und Supervisorin am Zürcher C. G. Jung-Institut würde sich wünschen, dass Menschen mehr Verletzlichkeit zulassen. “Zugleich ist jeder schwache, kranke Mensch stets mehr als nur schwach oder krank.”

In den vergangenen Jahrzehnten habe in der psychotherapeutischen Praxis ein Schwerpunkt auf der kognitiven Verhaltenstherapie gelegen, erklärt Meier. Die Arbeit mit mentalen Prozessen sei wirksam und wichtig; unbewusste Prägungen dürften indes nicht vernachlässigt werden. Dafür sei die Arbeit mit Träumen, Symbolen und Bildern, die auch auf Jung zurückgeht, sehr hilfreich. “Er vertrat ein anderes Konzept von Psychologie, aber auch von Kultur und Spiritualität, als es heute dem Mainstream entspricht.”

Ein Beispiel: Heute ist viel vom “inneren Kritiker” die Rede. Heutige Jungianer raten dazu, dieser Stimme eine Gestalt zu geben. Viele Menschen dächten an einen Gnom oder hagere Gestalten im Stil von Wilhelm Busch, verrät Meier aus ihrer Praxis. Mit dieser symbolischen Gestalt könne dann die Auseinandersetzung gesucht werden – und vielen falle es leichter, diese konkrete Figur zu ignorieren, um sich zu fragen, was sie selbst wollten und warum, was ihnen im Leben wichtig sei, ob sie in einer lauten Gesellschaft womöglich eher introvertiert seien – auch dies ein Begriff Jungs.

Ebenso seien “helfende Figuren” nicht nur etwas für Kinder, betont Meier – ob Plüschteddy oder “Krafttier”, Engel oder Fantasy-Figur. “Heutzutage wollen wir immer kontrolliert sein, dabei wimmelt es in der Filmkultur von solchen Figuren”, sagt die Autorin: Der Terminator oder Chewbacca aus der “Star Wars”-Reihe seien nur zwei Beispiele.

Jung selbst interessierte sich für Yoga und forschte auch bei Indigenen. Dass er psychiatrische Konzepte zeitweise auf den Aufstieg Adolf Hitlers bezog und sich während der NS-Zeit mitunter unsensibel über das Judentum äußerte, trug ihm massive Kritik ein; zunächst wurden seine Schriften von den Nationalsozialisten als “aufbauende Seelenlehre” gelobt, während jene des Juden Freud verbrannt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Jung, das “ungeheuerliche Vorgehen” des NS-Regimes habe seine positiven Illusionen über den Menschen “gründlich zerstört”.

In seinen letzten Jahren widmete sich Jung der Bedeutung von Religion für die Psyche. Er starb am 6. Juni 1961 in Küsnacht, wo er begraben liegt. Auf seinem Grabstein steht ein Zitat aus dem zweiten Korintherbrief: “Der erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde, der zweite Mensch stammt vom Himmel”.