Debatte um Erinnerungskultur in Deutschland reißt nicht ab

Für Mai hat Claudia Roth zu einem Runden Tisch zum Thema Erinnerungskultur eingeladen. Mit dem dazu vorab präsentierten Konzept ist die Kulturstaatsministerin bislang auf wenig Gegenliebe gestoßen.

Kurz vor Weihnachten 1904 befindet sich Soldat Leo Gräff auf Patrouille tief im Landesinneren von Namibia. In der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika schlagen die deutschen Kolonialherren gerade mit größter Brutalität einen Aufstand der Herero und Nama nieder. Einer seiner Männer ruft Gräff zu: “Herr Leutnant, dort ist ein Schwarzer!” In seinem Kriegstagebuch wird Gräff notieren: “Ich rief: Schießen! Schon knallte das Gewehr meines Unteroffiziers und der Schwarze war ein Weib.” Im Busch falle die Unterscheidung mitunter eben schwer, meint Gräff und fügt lapidar hinzu: “Daher ist ein solcher Fall immer zu entschuldigen.”

Die namenlose Indigene ist eines von Hunderttausenden Opfern der deutschen Kolonialherrschaft. Doch einen halbwegs prominenten Ort des Gedenkens an diese Gräueltaten sucht man zwischen Hamburg und Passau vergeblich. Geht es nach Kulturstaatsministerin Claudia Roth, könnte sich das in Zukunft ändern. Neben NS-Zeit, Schoah und der deutschen Teilung hat die Grünen-Politikerin zusätzliche Pfeiler der deutschen Erinnerungskultur identifiziert: Außer den Kolonialverbrechen sind das die Einwanderungsgesellschaft und die Kultur der Demokratie.

“Wir leben in einer Gesellschaft, in der Nationalsozialismus, Kolonialismus und das SED-Regime, aber auch antisemitische und rassistische Anschläge geschichtlich Teil dieser Gesellschaft sind, und allen gebührt Aufarbeitung und Erinnerung”, heißt es in dem 43 Seiten umfassenden “Rahmenkonzept Erinnerungskultur”, das Roth Anfang Februar präsentierte. Das Papier liegt der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) vor. Seither reißt die Debatte nicht ab.

Der Vorstoß der Kulturstaatsministerin hat eine Vorgeschichte, die rund 30 Jahre zurückreicht und in deren Zentrum vor allem die klassischen Gedenkstätten stehen, wie der Deutschlandfunk unlängst zusammenfasste. “1993 beschloss der Bundestag, sich an der Finanzierung von Gedenkstätten in den alten und neuen Bundesländern zu beteiligen. Dazu verabschiedete das Parlament eine Gesamtkonzeption, die 1999 und zuletzt 2008 überarbeitet wurde. Sie gibt vor, an welchen Maßstäben sich die Förderung des Bundes orientieren soll.”

Im Koalitionsvertrag verständigten sich SPD, Grüne und FDP darauf, diese Konzeption zu aktualisieren und die Gedenkstättenarbeit auskömmlich zu finanzieren. Es geht also um Geld – aber nicht nur. “Wir sehen eine Gefahr in dem Nebeneinanderstellen von Verbrechenskomplexen, die dafür doch zu unterschiedlich sind”, sagte etwa der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland, Oliver von Wrochem, vor wenigen Tagen dem “Spiegel”. Es gelte zu trennen “zwischen Formen der Gewalt in gesamtstaatlicher Verantwortung und Formen des Terrors von Gruppen oder Individuen”.

Der Hamburger Historiker und Kolonialismus-Experte Jürgen Zimmerer warnt davor, die erinnerungspolitischen Akteure gegeneinander auszuspielen und in einen Kampf um Finanzmittel zu treiben. Das Budget der NS-Gedenkstätten etwa dürfe nicht angerührt werden. Zu zentral sei das Menschheitsverbrechen des Holocaust und die kritische Auseinandersetzung damit für das Selbstverständnis des modernen Deutschland.

Zugleich gelte es aber, in angemessener Weise an die Toten in den deutschen Kolonien zu erinnern oder an die Erfahrungen jener, die im Lauf der vergangenen Jahrzehnte nach Deutschland einwanderten. Für diese neuen Aspekte der Erinnerungskultur biete die Aufarbeitung des DDR-Unrechts einen guten Vergleichspunkt. “Auf dieses – finanzielle – Niveau sollten die anderen Säulen aufwachsen. Das muss nun garantiert werden”, fordert Zimmerer.

Dennoch: Der Hamburger Historiker hält Roths Konzept – anders als die vielen Kritiker – für einen “großen Wurf” – weil es einen “längst überfälligen Raum für Kolonial- und Migrationsgeschichte” eröffne. Ob die Grünen-Politikerin die Koalitionspartner von der SPD und FDP hinter ihrer Vision von Erinnerungskultur versammeln kann, steht allerdings in den Sternen. Berichten zufolge plant das Kulturstaatsministerium für Mai einen Runden Tisch zum Thema. Voranbringen kann die Debatte nach Ansicht von Zimmerer aber nur ein “breiter Partizipationsprozess”.