Zwischen Zweifel und  Vertrauen

Glaubensstark und ohne Zweifel – so stellen sich viele einen richtigen Christen vor. Doch die Losung für 2020 zeigt: Der Zweifel gehört zum Menschsein dazu.

Margot Kessler / Pixelio

Die Jahreslosung 2020 lautet: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ aus dem Markusevangelium 9, 24

Sie wusste immer, dass sie zu den 144 000 Gerechten gehören würde, von denen die Offenbarung des Johannes erzählt, die einmal nach dem Jüngsten Gericht als Gerettete im Reich Gottes leben würden. Sie hatte nie am Wirken des Höchsten gezweifelt, gleich, was sie als Schicksalsschlag verkraften musste – am Ende werde alles im Rückblick Sinn ergeben, war sie überzeugt.

Er wusste immer, dass er auf dem richtigen Weg war. Denn sein Glaube an eine goldene Zukunft war durch eine wissenschaftliche Weltanschauung, wie es hieß, untermauert. Selbst wenn plötzlich die Wahrheiten von gestern nicht mehr galten, weil die Führungsspitze gewechselt hatte – er blieb dabei, dass alles schon seinen Sinn und seine Richtigkeit im großen Weltenplan habe.

Ich bewundere solche Menschen. Menschen, für die immer alles ganz klar und eindeutig ist. Die nie an der großen Sache zweifeln. Wie diese Frau, die von sich sagt, dass sie Christin ist, wie dieser alte Mann, der bis zu seinem Lebensende­ Kommunist blieb. Und gleichzeitig machen sie mir Angst. Wer kann schon so leben?

Die Bibel – ein Glück!

Die Bibel ist da, zum Glück für uns alle, die wir nicht so glaubensstark sind, realistischer und gnädiger, auch in unserer Losung für das Jahr 2020: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Das ist kein Satz eines Glaubensstarken, der unerschütterlich durchs Leben schreitet. Es ist der verzweifelte Schrei eines Vaters.

Sein Sohn, so erzählt der Evangelist Markus, wird seit Jahren geplagt von Anfällen, die wie böse Mächte seinen Körper in Besitz nehmen. Diesem Mann geht es so wie den meisten Menschen in großen Krisen: Hoffnung und Verzweiflung wechseln sich ab. Schon oft hatte er gehört, dass eine neue Behandlungsmethode gefunden worden sei oder dass ein neuer Wunderheiler durchs Land ziehe. Das gab der Hoffnung neue Nahrung, bis sie dann doch wieder nur enttäuscht wurde.

Nun war wieder die Nachricht von einem solchen begnadeten Meister durchs Land geflogen. Und weil die Hoffnung ein starker Antrieb ist, machte sich der Vater trotz alledem wieder auf den Weg.Und dann wieder die Enttäuschung: Der Meister ist nicht da. Doch er hat Schüler. Sie mühen sich ab nach bestem Wissen und Gewissen. Doch das Ergebnis ist gleich null. Andere fromme Männer kommen dazu, jeder hat einen anderen guten Rat. Sie alle fruchten nichts. Es kommt zum Streit zwischen ihnen, erzählt Markus.

Mitten im Debakel

Mitten hinein in dieses Debakel kommt Jesus mit Petrus, Johannes und Jakobus. Eben noch waren sie auf einem hohen Berg gewesen, dem Alltag enthoben. Dort hatten die drei Jünger erlebt, wie sich Gott zu ihrem Meister bekannte: „Dies ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören.“ Heilige Stunde der Gottesbegegnung.

Doch Jesus führt sie wieder mit hinunter in die Niederungen des Lebens. Der Meister muss selbst den stumm machenden Geist der Krankheit bedrohen und austrieben. Und er heilt ihn. Die Jünger sind begeistert. Sie sind doch dem richtigen Wundertäter gefolgt.

Jesus aber reißt sie heraus aus der Euphorie. Sein Ziel ist nicht das Leben als Guru. Sein Ziel ist das Kreuz. Ja, auch er wird sie enttäuschen – und doch ihre Erwartungen zu Ostern weit übertreffen.

Auch 2020 wird wieder Hoffnungen und Enttäuschungen bringen. Ich wünsche Ihnen und mir, dass, wenn die Zweifel wachsen, dann immer noch genügend Kraft vorhanden ist, zu schreien: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Mehr, so sagt die Jahreslosung, braucht es nicht, dass er dir nah ist.

Unser Autor
Pastor Tilman Baier ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.