Zur Milde befreit

Das Herz weiß mehr, als das Gesetz gebietet, schreibt Christine Breitbach. Sie lebt als Pastorin i.R. in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „Du aber, was richtest du deinen Bruder?… Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ aus dem Brief des Paulus an die Römer 14, 10-13
Sie kennen die Geschichte von der Ehebrecherin? Entrüstete Gesetzeslehrer wollten den, der als milde bekannt war, zu dem Satz bewegen, sie müsse gesteinigt werden. Aber der Milde bückte sich, schwieg und malte im Sand.
Da gibt es zwei Gruppen von Tätern: eine Ehebrecherin, sündig genannt, und Richtende, der Gesinnung nach Mörder. Über beiden lastet das gleiche harte Gesetz, nur mit dem Unterschied, dass das Gesetz das eine Tun Unrecht nennt und das andere, schlimmere Tun Recht. Doch der Milde entzieht sich ihnen allen: Der betrügenden Frau, den Mördern, dem Gesetz, dem Richteramt: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“
Plötzlich verändert sich alles: Das Herz weiß mehr, als das Gesetz gebietet. Die Richtenden räumen den Schauplatz, einer nach dem anderen. Der Milde achtet ihre Beschämung und verharrt gebückt am Boden, bis alle gegangen sind. Dann steht er auf und fragt die junge Frau: „Hat dich keiner verurteilt?“ „Nein, Herr.“ „Auch ich verurteile dich nicht.“
So endet die Geschichte ursprünglich. Der Verzicht darauf, zu richten, zu verurteilen, hat aber noch weitere Konsequenzen: Das eigentliche Opfer kommt in der Geschichte nämlich nicht vor: der Ehemann. Wäre die Frau von denen, die richten wollten, gesteinigt worden, wäre er doppelt zum Opfer geworden. Doch so, wo kein Richtender zwischen die beiden tritt, haben sie die Möglichkeit, die Versöhnung zu finden und neu zu beginnen.
Der Verzicht darauf, zu richten, weiß von der Einsicht, dass Gesetze nur scheinbar ehern und ewig sind. Auf der Erde aber ist alles vergänglich, und einem Ende folgen neue Anfänge. So hat es wohl auch Paulus geahnt und deshalb auf den Richterstuhl Gottes verwiesen: Da wird jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Da wird es entschieden. Seine Vermutung hat etwas Entlastendes und befreit zur Milde auf Erden: „Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern seid vielmehr in eurem Sinn darauf bedacht, dass niemand einem anderen Anstoß oder Ärgernis bereite.“
Unsere Autorin
Pastorin i.R. Christine Breitbach
lebt in Reinshagen bei Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern).
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.