Zuflucht finden!

Maria ruht mit dem Jesuskind zwischen den Pranken einer Sphinx. Für Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamts der EKD, ist das sein Weihnachtsbild 2015. Ein Gastbeitrag.

Maria mit dem Jesuskind in den Armen einer Sphinx (Gemälde des Malers Luc-Olivier Merson von 1879)
Maria mit dem Jesuskind in den Armen einer Sphinx (Gemälde des Malers Luc-Olivier Merson von 1879)JRcovert / Wikimedia

Wir brauchen Zuflucht. Wahrscheinlich sehnt sich jeder Mensch nach einem Ort, wo er sich geborgen fühlen kann. Das kann ein Platz in der Landschaft oder eine gemütliche Ecke zu Hause sein. Ein Ort, wo man sein darf, wie man ist. Nicht angegriffen, nicht infrage gestellt wird. Wo man sich behütet fühlt. Vielleicht hängt diese Sehnsucht mit unserer Herkunft aus dem Mutterleib zusammen. Mag sein, dass bei unserer Geburt eine Sehnsucht nach so einem geschützten Ort zurückbleibt.
Weihnachten suchen wir Zuflucht. Wer es irgendwie einrichten kann, fährt in seine Heimat zu seiner Familie oder in einen vertrauten Freundeskreis oder verbringt Weihnachten allein, aber auch dann an einem Ort, wo man es sich heimelig machen kann. Wer dies nicht einrichten kann, weil er weit weg von aller Zuflucht lebt, auf der Flucht ist, auf der Straße lebt, keine Familie hat, empfindet diese Sehnsucht zu Weihnachten oftmals besonders stark und quälend. Weihnachten ist nicht für alle Menschen schön. Manchen steht es gerade deshalb bevor, weil sie den Graben zwischen ihrer Sehnsucht und der Wirklichkeit dann besonders schmerzlich empfinden.
Weihnachten war aber nie heile Welt. Schon die Suche nach einer Zuflucht für die Geburt wurde für Josef und Maria zum Problem. Ein Stall musste am Ende reichen. So romantisch, wie unsere Krippen ihn heutzutage darstellen, wird er nicht gewesen sein. Eher doch armselig, schmutzig und zugig. Bald nach Jesu Geburt mussten seine Eltern mit ihm vor den Todesdrohungen des Herodes auf die Flucht gehen. Sie zogen nach Ägypten. Das war zu der Zeit ein Sehnsuchtsland, friedlich und wohlhabend.

Schutz finden in einer fremden Kultur

Luc-Olivier Merson, ein französischer Maler, malte 1879 ein Bild, das in seinen Bann zieht. Die Heilige Familie macht Rast am Fuß einer Sphinx. Mitten in der kahlen Wüste steht eine riesige Sphinx. Etwas abseits der Esel. Josef hat sich auf den Boden gelegt, den Kopf auf die erste Stufe des Podestes, seinen Mantel hat er über sich gebreitet. Reste eines Lagerfeuers glimmen. Die Nächte in der Wüste sind kalt.
Maria hat sich mit ihrem Kind in den Schoß der Sphinx gelegt. Wie ein kindlicher Scherz mutet das an. Wer hat nicht als Kind versucht, auf Denkmale und Skulpturen zu klettern, auch wenn es strikt verboten war? Dort oben hat Maria sich mit Jesus in ihrem Arm niedergelassen. Das Kind reckt den Kopf, scheint sich umzuschauen in der Weite der Wüstennacht. Von dem Kind geht Licht aus. Als ob es selber eine Lichtquelle wäre oder Maria eine Laterne dicht neben sich stehen hätte, dringt Licht von Mutter und Kind in die Dunkelheit. Die Sphinx lässt es sich gefallen. Gelassen bietet sie ihre Pranken dar als Ruheplatz. Sie lächelt weise.
Die Heilige Familie findet Schutz in einer fremden Kultur. Vielleicht ist es das, was mich an diesem Bild besonders in diesem Jahr in den Bann zieht. Menschen sind auf der Flucht. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, Schutz in einer anderen Kultur, im Raum einer fremden Religion zu finden.

Welch ein Rollentausch!

Und wir, die wir diesem Kind nachfolgen, sind in diesen Tagen zur „Sphinx“ geworden. Welch ein Rollentausch! Menschen suchen bei uns Zuflucht. Hoffen, sie können sich so an uns lehnen, im Schoß unserer Kultur geborgen fühlen. Ganz so gelassen wie die echte Sphinx sind wir nicht, aber doch stellen sich zahllose Menschen in unserem Land – und darunter Tausende von Freiwilligen aus den Kirchengemeinden – der Aufgabe, anderen Zuflucht zu geben.
Das Licht, das mit Jesus zu Weihnachten in die Welt gekommen ist, ist die Liebe. Sie strahlt durch die Jahrhunderte. Sie strahlt durch Wüstennächte, sie strahlt über dem Mittelmeer mit seinen vielen Flüchtlingsschiffen, sie strahlt über dem Himmel der norddeutschen Tiefebene. Und wir strahlen mit ihr. Sie wärmt uns von innen, weil Christus in unseren Herzen geboren wird. Und vielleicht brauchen wir nicht viel mehr zu tun, als dieses Strahlen aus unseren Herzen zuzulassen. Ohne Anstrengung, ohne Hektik, ohne Ängstlichkeit. Einfach die Liebe zulassen und weitergeben. Wer weiß, vielleicht lächeln wir dann am Heiligen Abend weise oder fröhlich – und andere mit uns. Denn die Liebe ist stark wie der Tod und am Ende mächtiger als er. Frohe Weihnachten!
Unser Autor
Dr. Horst Gorsk
i ist Vizepräsident des Kirchenamts der EKD und Leiter des Amtes der VELKD. Zuvor war er Propst in Hamburg.