70er-Jahre-Partys, Mittelaltermärkte, Steampunk-Kultur: Die Sehnsucht nach einem Lebensgefühl „wie früher“ scheint heute so groß wie nie zu sein. Der Vintage-Trend hat Mode, Einrichtungstrends und den Hobby-Markt längst erreicht. Im Interview mit Paula Konersmann erklärt der Psychologe und Markenforscher Stephan Grünewald, welche Sehnsucht dahintersteckt, woher dieser Boom kommt und was er über die heutige Zeit aussagt.
Herr Grünewald, wie „groß“ ist der Vintage-Trend?
Der Megatrend Vintage ist gewissermaßen eine Abwandlung des Ret-rotrends, den wir seit etwa zehn Jahren beobachten. Wir leben in einer Zeit – das merken wir an der GroKo –, die recht visionslos ist. Wir befinden uns nicht in einer Aufbruchstimmung, sondern sind eher in einer permanenten Gegenwart verhaftet. Die-ses Aufbruchsvakuum wird kompensiert, indem wir Aufbruchsstimmungen der Vergangenheit aufleben lassen. So soll eine gefühlte Leere gefüllt werden, die wir angesichts verlorener großer Ziele verspüren.
Also kein Mode-, sondern ein politischer Trend?
Nein, der Vintage-Trend ist kein politisches Phänomen. In der Politik spiegelt sich die Illusionslosigkeit, aber der Trend betrifft in erster Linie unseren Alltag. Die wenigsten Menschen fühlen sich heute als Teil einer großen Bewegung, wissen nicht, wie weit sie gehen können, haben eher Angst vor der Zukunft. Das führt dazu, dass sie sich fast sehnsüchtig an Zustände und Stimmungen klammern, in denen sie begeistert waren und durchstarten wollten. Das tragen sie dann als eine Art modisches Attribut vor sich her.
Gibt es nicht nur Sehnsuchtsorte, sondern auch Sehnsuchtszeiten?
Ja, und sie ändern sich immer wieder. Die beiden großen Strömungen sind die 20er und die 70er Jahre. Die 20er Jahre gelten als eine wilde, exaltierte Zeit, in der die Krise, die wir heute in der Zukunft fürchten, überwunden schien. In allen Lebensbereichen brach damals eine Avantgarde auf: in der Musik, in der Mode, im Städtebau. Auch die 70er Jahre waren eine Aufbruchszeit. Damals wurde die Republik bunt, die Menschen emanzipierten sich und erkämpften sich Freiheitsrechte.
Kann aus allzu großer Nostalgie nicht auch eine gewisse Realitätsflucht entstehen?
Das ist ein schwieriger Begriff. Was ist Realität? Wir schauen Serien und Spielfilme, wir lesen Romane – das ist immer auch ein Versuch, unsere eigene Realität in der Brechung anderer Zeit zu verstehen. Wenn wir uns in vergangene Zeiten träumen, können wir die Aufbruchsstimmung schmecken, ohne die Risiken des Aufbruchs durchleben zu müssen. Letztlich ist das eine Form von Maskerade.
Dabei scheinen sich viele Menschen in der digitalen Zeit doch nach „echten“ Erfahrungen zu sehnen …
Richtig. Das zeigt sich zum Beispiel in der Renaissance der Schallplat-te. Sie ist ein Sinnbild für das analoge Leben. Im Analogen sind wir wie die Plattennadel in einer Schicksalsrille, in einer festen Spur, wir reiben uns auf und bringen dadurch die Musik des Lebens zum Schwingen. Auch wissen wir um die Anfälligkeit für Störungen – unterwegs entstehen Risse, Kratzer, Alterungsprozesse – und um unsere Endlichkeit: Irgendwann ist die Platte zu Ende gespielt.
Dann kam die CD …
Und damit das digitale Lebensideal. Die CD stand für ein Leben in ewigem Glanz, ohne Abnutzung, Alter und Tod; ein Leben, in dem wir nicht in einer Schicksalsspur gefangen sind, sondern auf Knopfdruck von Höhepunkt zu Höhepunkt springen können. Was gerade nicht passt, kommt weg. Heute ist nicht nur Musik stets digital verfügbar. Das Smartphone beschert uns ständig diese Knopfdruckmagie. Aber wir sehnen wir uns nach dem Analogen, zumindest in manchen Lebensbereichen. Deshalb kaufen wir Dinge bei Manufactum oder freuen uns an der Vinylschallplatte.
Gibt es Unterschiede zwischen den Generationen?
Bei Älteren spielt es eine wichtige Rolle, sich an ihre eigene Jugend zu erinnern. Sie können etwa die 70er Jahre noch einmal nachschmecken und fühlen sich jünger, wenn sie wieder in dem Umfeld sind, das die Jugendzeit geprägt hat. Jüngere Menschen haben dagegen oft einfach Spaß am Zitieren und daran, Teil ei-ner entfesselten Bewegung zu sein.
Manches an diesem Trend erinnert an die historische Epoche des Biedermeier. Könnte es heute zu einem ähnlichen Rückzug ins Private und damit einer eher unpolitischen Phase kommen?
Die aktuelle Jugend wird teils als Generation Biedermeier bezeichnet. Sie unterscheidet sich deutlich von den 68ern: Sie erlebten die Welt als borniert, wollten ausbrechen und strebten nach Freiheit. Die heutige Jugend erlebt die Welt als brüchig: alleinerziehende Mütter, desertierende Väter, erodierende Parteien – worauf ist überhaupt Verlass, was gibt Stabilität? Viele junge Menschen sehnen sich nach Stabilität, Beständigkeit und Überschaubarkeit. Das Gefühl der Zerrissenheit könnte den Vintage- durchaus zum Biedermeier-Trend werden lassen.
