Föhrenwald war das letzte verbliebene Lager für jüdische „Displaced Persons“ (DP) und das letzte „Schtetl“ auf europäischem Boden: Über 5.000 heimatlose Holocaust-Überlebende warteten von 1945 bis 1957 im heutigen Waldram bei Wolfratshausen (Landkreis Bad Tölz) darauf, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Einer von ihnen war Beno Salamander: Zusammen mit seiner jüngeren Schwester Rachel, seinem Vater und der schwerkranken Mutter kam er 1951 in das DP-Lager. Anlässlich der 80-Jahrfeier am Samstag (18. Oktober) erinnert sich der 81-jährige Arzt an unbeschwerte Kindertage, einen harten Umzug und seinen besten Freund.
epd: Herr Salamander, Sie haben Ihre Kindheit zwischen dem 7. und dem 12. Lebensjahr im DP-Lager Föhrenwald verbracht. Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeit?
Salamander: Es war einfach eine freie Zeit für mich und alle Kinder dort. Es war wie eine große Dorfgemeinschaft, jeder kannte jeden. Wir Kinder waren miteinander sehr verbunden: Vormittags waren wir in der Schule, danach haben wir den Ranzen in die Ecke geschmissen und den ganzen Nachmittag draußen gespielt. Es war eine sehr unbekümmerte Kindheit. Für die Erwachsenen war das anders, sie verbrachten in dem Lager eine ungewisse Zeit, weil sie nicht wussten, wie es mit ihrer Zukunft und mit der Zukunft ihrer Kinder weitergehen sollte.
epd: Ihre Familie war bereits in anderen DP-Lagern, bevor sie nach Föhrenwald kam…
Salamander: Meine Eltern waren beide während des Kriegs vor den Nazis nach Osten geflohen. Mein Vater, aus Lemberg stammend, wurde von den Sowjets in einem Gulag inhaftiert und ging nach seiner Befreiung nach Turkmenistan. Dort lernte er meine Mutter kennen, die zusammen mit ihrer Schwester aus dem Warschauer Ghetto nach Russland geflohen war. 1944 wurde ich geboren. Nach Kriegsende geriet meine Familie mit den rückkehrenden Flüchtlingsströmen in verschiedene DP-Lager im besiegten Deutschland, zunächst in Hof an der Saale. Von dort ging es ins DP-Lager nach Deggendorf, wo meine Schwester Rachel geboren wurde, und dann über Lechfeld bei Augsburg nach Föhrenwald. Wir kamen 1951 an einem kalten Wintertag in einem kleinen Lastauto an. Meine Mutter war nicht dabei, sie wurde bereits im Krankenhaus behandelt wegen der Herzklappenentzündung, die sie sich durch die widrigen Bedingungen auf der Flucht mit ihrer Schwester zugezogen hatte. Auch meine Tante hatte sich dabei eine Lungentuberkulose zugezogen. Beide Frauen verstarben jung im DP-Lager an diesen Erkrankungen, meine Mutter 1953 in Föhrenwald. Sie wurden beide nur 36 Jahre alt.
epd: Können Sie sich noch an Ihr Haus in Föhrenwald erinnern?
Salamander: Ja, das war in der New Jersey Straße 36. Wir im Lager sagten damals: „Nef Jersei“. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als wir dorthin kamen. Wir bekamen in dem Haus das Erdgeschoss: zwei Zimmer, ein Bad, wo eigentlich nur ein Wasserhahn und ein Schlauch drin war, und eine Toilette beim Eingang links. Oben wohnte ein Ehepaar namens Lew. Als wir ankamen, hat Frau Lew uns Kinder zu sich nach oben genommen und uns heißen Kakao oder Tee gegeben. In der Zwischenzeit ist unser Vater im Lager unterwegs gewesen und kam schließlich mit einem Heizofen, Kohle und Holz zurück. Er hat den Ofen angeschlossen und eingeheizt, und da wurde es warm. Dann hat er uns von oben runtergeholt. So begann unser Leben in Föhrenwald.
epd: Hatten Sie im Lager einen besten Freund?
Salamander: Die Kinder waren alle irgendwie verbandelt. Es gab verschiedene Jungenbanden aus den einzelnen Vierteln; wir haben zusammen Fußball gespielt und sind in den unterirdischen Gängen, die die Nazis von der Munitionsfabrik zur Siedlung gegraben hatten, herumgelaufen. Eine Zeitlang hatte ich eine richtige Freundschaft mit einem Jungen, der hieß Henjek Susek. Aber alle Erwachsenen im Lager wollten ja auswandern, und Henjek und seiner Mutter ist das gelungen: die Auswanderung in die USA. Da war ich sehr traurig.
epd: Hatten Sie später noch Kontakt?
Salamander: Ja, ich habe ab und zu über seine Tante von ihm gehört. Er war dann als amerikanischer Soldat in Vietnam, wurde verwundet und musste seinen Dienst abbrechen – Gott sei Dank. Damals habe ich ihm einen Brief geschrieben und er hat mir auch geantwortet, dass er sich sehr darüber gefreut hat, dass er noch im Krankenhaus ist und dass er viel raucht. Das ist ihm wohl zum Verhängnis geworden, denn in den 1970er-Jahre ist er an einem Herzinfarkt gestorben.
epd: Die Erwachsenen in Föhrenwald hatten die Shoah überlebt. Niemand wollte in Deutschland bleiben, alle wollten auswandern. Wie haben Sie diese Situation als Kind empfunden?
Salamander: Wir haben natürlich mitgekriegt, dass im Krieg schreckliche Dinge passiert waren. Alle Leute im Lager waren Überlebende. Und jeder von ihnen hat an irgendeinem Punkt seiner Geschichte einmal ein großes Glück gehabt, so dass er mit dem Leben davongekommen ist. Trotzdem waren gerade jene, die in den DP-Lagern untergebracht waren – und das waren anfangs an die 200.000 jüdische Menschen – besonders traumatisiert und zudem oft physisch oder psychisch krank. Aber wir Kinder hatten einfach einen Lebenswillen, wir waren stark, wir wollten leben und blühen, so wie eine junge Pflanze groß werden will. Von der Vergangenheit der Eltern haben wir uns zumindest nicht bewusst in unserem Frohsinn, unserem Spieltrieb und unserer Neugierde einschränken lassen.
epd: 1956, kurz bevor das DP-Lager aufgelöst wurde, zog Ihr Vater mit Ihnen und Ihrer Schwester nach München. Wie haben Sie diesen Umzug erlebt?
Salamander: Im Juli 1956 kamen meine Schwester und ich in ein Ferienlager der jüdischen Gemeinschaft in den Schwarzwald. Das war für uns eine wahnsinnig schöne Zeit, es war landschaftlich wunderbar und es gab viele andere jüdische Kinder in unserem Alter. In der Zwischenzeit bekam aber unser Vater eine Wohnung in München zugewiesen. Als wir nachts mit dem Zug am Bahnhof ankamen, holte er uns ab und wir gingen in der Dunkelheit zu dem neuen, vierstöckigen Haus. Ich hatte so ein großes Haus noch nie betreten. Das Treppenhaus war bedrückend und unheimlich. In der Wohnung war alles fremd. So haben wir die erste Nacht verbracht, und am nächsten Morgen ging es in die Schule. Auf dem Weg dorthin mussten wir die große Nymphenburger Straße überqueren – Ampeln hatte ich davor noch nie gesehen. Ich würde die ganze Situation mit dem Wort „Zivilisationsschock“ beschreiben. Ich kam in die siebte Volksschulklasse, meine Schwester in die zweite, und wir kannten niemanden. In der Pause haben wir uns gegenseitig gesucht, auf dem riesigen Schulhof, wo all die vielen Kinder herumgetollt sind. Und als wir uns endlich gefunden hatten, haben wir uns umarmt und die ganze Pause lang geweint. Das weiß ich noch. Das war der erste Tag in München.
epd: Das war ein harter Anfang.
Salamander: Ja, das war ein harter Schritt. Wir waren die einzigen jüdischen Kinder in der ganzen Schule. Aber da mussten wir dann eben auch durch.
epd: Seit 2018 gibt es in Waldram den „Erinnerungsort Badehaus“. Was bedeutet es für Sie, dass die Geschichte von Föhrenwald dort für die Nachwelt festgehalten ist?
Salamander: Die Historikerin Sybille Krafft hat da eine sehr wichtige Einrichtung geschaffen. Föhrenwald war damals schon dem Vergessen anheimgefallen, kein Mensch hat sich mehr dafür interessiert. Jetzt setzen sich dort gerade auch viele junge Menschen dafür ein, dass die Erinnerung an diesen geschichtsträchtigen Ort aufrechterhalten wird. Sie setzen sich dafür ein, dass Demokratie in Deutschland lebendig bleibt, dass es keine Vorurteile gegen andersgläubige oder andersstämmige Menschen gibt. Alle Menschen, egal welches Schicksal sie durchgemacht haben, sollen sich vertragen. Dieser Gedanke lebt dort, und das finde ich toll.
epd: Zum 80. Gründungstag von Föhrenwald organisiert das „Badehaus“ nächsten Samstag eine große Veranstaltung für die Öffentlichkeit, zu der auch etwa 40 ehemalige Bewohner kommen. Mit welchen Gefühlen fahren Sie dorthin?
Salamander: Ich freue mich darauf, vielleicht den ein oder anderen zu treffen, den ich 1956 zuletzt gesehen habe. Meine Schwester hatte in den 1990er-Jahren ein Historikertreffen zu Föhrenwald organisiert, da waren auch schon einige Ehemalige dabei. Ich weiß, dass diesmal die Tochter des Malers Berger kommt; ihre Familie hat im Haus vor uns gewohnt und er hat einmal meine Mutter porträtiert. Ich freue mich einfach, ein paar im wahrsten Sinne des Wortes alte Gesichter wiederzusehen. Hoffentlich erkennen wir uns noch. (3153/12.10.2025)