„Wir haben uns in den Schlaf gesungen“

Im „ChorWerk Hannover“ singen einstige und derzeitige Obdachlose über ihr Leben. Die Initiatoren wollen damit den Menschen am Rand der Gesellschaft eine Stimme geben – und mehr Selbstwert.

"ChorWerk" bei einem Auftritt während einer Benefizgala der Zeitschrift "Asphalt"
"ChorWerk" bei einem Auftritt während einer Benefizgala der Zeitschrift "Asphalt"Harald Koch

Hannover. „Du spritzt seit Jahren Heroin, noch niemals warst du wirklich clean, du verfluchst und liebst doch jede Nadel“, singt der Chor. Einige der zehn Männer und Frauen schauen dabei in die schwarz gebundenen Notenhefte auf ihren Knien. Andere halten ihre Augen geschlossen, während sie zur nächsten Strophe anheben: „Du hast schon so oft nachgedacht, manchmal schon fast Schluss gemacht, du glaubst für dich, es gibt kein Hallelujah“. Die Mitglieder des „ChorWerk Hannover“ sind wohnungslose oder von Armut bedrohte Menschen. Bei der Probe für ihren nächsten Auftritt stimmen sie jetzt eine eigens für sie geschriebene Version des Liedes von Leonard Cohen an: „Hallelujah“.

„Diese Leute wissen, was sie singen“, sagt Wolfgang Schröfel. Der Ehrenpräsident des Niedersächsischen Chorverbandes hat im vergangenen Jahr das Vorhaben ins Leben gerufen. „Und sie singen es mit Leib und Seele.“ Im Juni sind sie im Hannover Congress Centrum vor mehreren Hundert Zuschauern aufgetreten.

Kaum wahrgenommen

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gab es in Deutschland im Jahr 2017 rund 650.000 Menschen ohne Wohnung. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Geflohene in Flüchtlingsunterkünften. Etwa 48.000 lebten auf der Straße – in Hannover waren es rund 400.

„Obdachlose werden in unserer Gesellschaft entweder kaum wahrgenommen – oder andere machen einen Riesenbogen um sie“, sagt Willi Schönamsgruber, der die Chorprobe an diesem Tag leitet. Beim gemeinsamen Singen kommt es aber auf jede einzelne Stimme an. Plötzlich merken die Menschen, wie wichtig ihr eigener Part ist: „Das gibt ihnen den Selbstwert zurück.“

So war es zum Beispiel bei „Nuschel, dem Captain“, wie er von seinen Chor-Kollegen genannt wird. Als der große Mann mit Brille aus seinem Beruf als Binnenschiffer ausgestiegen war, lebte er zwei Jahre lang „mal hier, mal da“ als Musiker auf der Straße. Zu dieser Zeit trank er bis zu zwei Flaschen Wodka am Tag, wie Nuschel erzählt: „Mein sehnlichster Wunsch war aber aufzuhören.“ Erst als er vor drei Jahren nach Hannover zog, fand er zur Therapie.

Eine Idee als Import

Der heute 63-Jährige wurde trocken und kam zunächst in Einrichtungen der Suchthilfe unter. Inzwischen hat er eine eigene Wohnung bezogen. Seine Freundin Manuela hat Nuschel im Chor kennengelernt. Zum Frühstück vor der Probe haben die beiden selbst gebackenen Apfelkuchen mitgebracht.

Chöre für Menschen ohne festen Wohnsitz entstanden in den 1990er Jahren in Großbritannien, Kanada, den USA und Australien. In Deutschland gründete der Pianist Stefan Schmidt 2009 in Berlin den ersten Straßenchor. Darin singen Prostituierte, Obdachlose, Kranke und Drogensüchtige. Heute zählt dieser bundesweit erfolgreichste Straßenchor rund 40 Mitglieder, die regelmäßig zu den Proben kommen. Sie führten unter anderem Carl Orffs „Carmina Burana“ in der Berliner Philharmonie auf.

Im Laufe der vergangenen Jahre starteten ähnliche Initiativen auch in Osnabrück, Bonn und Dortmund. Den Text zum Song „Hallelujah“, den die Hannoveraner einüben, haben die Sänger aus Osnabrück gedichtet. In ihrem Chor „Abseits“ singen die dortigen Besucher eines Tagestreffs für Wohnungslose seit acht Jahren zusammen.

„Das ist es, was du brauchst“

„Wir woll’n dich nicht im Abseits seh’n, du brauchst nur durch die Tür zu geh’n. Nimm von deiner Welt doch mal ’ne Pause“, singt Bernd bei der „ChorWerk“-Probe in Hannover mit. Der 75-Jährige war als junger Mann für einige Jahre obdachlos. „Wir haben auf dem Georgsplatz geschlafen und uns nachts oft in den Schlaf gesungen, weil wir Hunger hatten“, erinnert er sich. Durch eine Ausbildung zum Bürokaufmann schaffte Bernd damals den Absprung. Seit er im Ruhestand ist, singt er in drei Chören. „Aber nur hier singen wir von dem, was wir selbst erlebt haben.“

Nuschel, Manuela und die anderen aus seiner Chorgruppe setzen zur letzten Strophe an: „Die Seele ruht beim Singen aus, das ist es, was du grade brauchst, drum komm und sing mit uns dein Hallelujah.“ (epd)