„Wir dürfen sie nicht vergessen“

Das Besuchs-Verbot im Zuge der Corona-Maßnahmen treffe Häftlinge besonders hart, sagt Bischof Tilman Jeremias. Er hat im Gefängnis Bützow mit Gefangenen, Mitarbeitern und Seelsorgern gesprochen.

Bischof Tilman Jeremias vor der Justizvollzugsanstalt Bützow
Bischof Tilman Jeremias vor der Justizvollzugsanstalt BützowAnnette Klinkhardt

Herr Jeremias, was war Ihr Eindruck nach dem Besuch: Wie geht es den Häftlingen unter den geltenden Corona-Maßnahmen?
Tilman Jeremias: Für die Gefangenen war es richtig bitter, dass sie ein paar Wochen lang zum Schutz vor Ansteckung überhaupt keine Besucher empfangen durften. Inzwischen ist wieder eine Person pro Monat erlaubt – aber wirklich nur eine, und auch nur hinter Plexiglas. Das macht den meisten Häftlingen sehr zu schaffen, mehr als die Angst vor einer Ansteckung. Auch die Angehörigen, vor allem die Kinder der Gefangenen, leiden darunter. Für eine JVA wäre es aber eine Katastrophe, wenn dort Covid-19 ausbräche. Deshalb hat die Leitung Bereiche so separiert, dass im Fall einer Infektion nicht gleich alle betroffen wären.
Mit Erstaunen habe ich gehört, dass viele der Häftlinge auch die Gottesdienste sehr vermissen. Normalerweise finden in der JVA Bützow am Wochenende bis zu sechs Gottesdienste mit durchschnittlich 25 Besuchern statt. Zwei Gefangene, einer seit über 20 Jahren hinter Gittern und einer, der selbst im Gesicht „hate“ und „fuck the police“ tätowiert hat, haben mir erzählt, wie gern sie singen, am liebsten „Laudato si“ und „Geh unter der Gnade …“. Das war sehr berührend.

Welche Bedeutung haben die Besuche normalerweise für die Gefangenen?
Einer der Gefangenen ist zum Beispiel vierfacher Vater und inzwischen Großvater. Auch wenn seine Biografie verkorkst und die Beziehung zu den Kindern schwierig ist, geht es ihm, wie es wohl jedem gehen würde: Er vermisst sie. Die Besuche sind außerdem eine wichtige Brücke ins Außen. Der Anstaltsleiter hat mir erzählt: Je mehr Fäden nach außen abreißen, desto schwerer wird es für die Gefangenen nachher, sich in der Welt da draußen wieder zurechtzufinden.

Bischof Jeremias (re.) mit Gefängnisseelsorger Andreas Timm
Bischof Jeremias (re.) mit Gefängnisseelsorger Andreas TimmAnnette Klinkhardt

Wenn man vom Prinzip der gewaltfreien Kommunikation ausgeht, könnte man sagen: Jedes Verbrechen ist im Kern der Versuch, eigene Bedürfnisse zu erfüllen – leider auf sehr destruktive Art und Weise. Wie sehen Sie das als Seelsorger?
Genauso. All diese Verbrechen sind in gewissem Sinne nachvollziehbar, wenn man sich die Biografien der Täter anschaut. Viele von ihnen sind in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt gewesen. Einer hat mir erzählt, dass er als Schüler zu DDR-Zeiten einfach frech war. Dann ist er im Jugendwerkhof gelandet und dort kriminell geworden: Gewalt und Stehlen, das habe er da erst gelernt, sagt er. Das ist natürlich keine Entschuldigung, aber es gibt zu jedem Verbrechen eine Geschichte, es gibt immer Gründe.

Sie haben vorhin angedeutet, dass viele Gefangene die Gottesdienste schätzen. Gilt das auch für andere Angebote der evangelischen und katholischen Kirche in der JVA?
In unseren Kirchengemeinden bangen wir ja oft um unsere zwei, drei Besucher. In der JVA ist die überschaubare Kapelle jedes Mal so überfüllt, dass mehrere Gottesdienste hintereinander stattfinden. Die werden quasi überrannt! Natürlich sind die Häftlinge nicht alle fromm. Viele genießen den Gottesdienst einfach als Freiraum, wo man mal was sagen darf, wo man akzeptiert ist und sich frei bewegen darf – außerhalb des Hofgangs. Auch die Einzelgespräche, die der evangelische Gefängnisseelsorger Andreas Timm und seine katholische Kollegin Martina Stamm anbieten, treffen auf sehr viel Resonanz. Andreas Timm hat erzählt: Sie bekommen viel, viel mehr Gesprächsanfragen, als sie ad hoc erfüllen können. Mir hat das noch einmal gezeigt, wie wichtig die Kirche im System Gesellschaft ist: Wir brauchen Kraft und Personen, um an Orten wie diesen präsent zu sein.

Interessieren wir uns als Kirche, als Gesellschaft genug für die Menschen in den JVAs?
Bei mir selbst und anderen beobachte ich schon: Wir werden nicht so gern damit konfrontiert, dass es Menschen gibt, die Verbrechen begangen haben. Wer in Bützow lebt, kann das gar nicht übersehen, die Mauern sind ja sechs Meter hoch und mit Stacheldraht bestückt. Das Gefängnis ist fast so groß wie eine Kleinstadt, da drin gibt es auch Ausbildungsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, Sportplätze und so weiter. Aber andernorts kann man das gut vergessen oder sieht diese Gefangenen nur als Aktenfälle. Das finde ich durchaus verständlich. Aber wenn man einem Häftling gegenübersitzt, merkt man schnell: Der ist ein Mensch wie du und ich. Jeder von uns kann sich versündigen, niemand von uns ist davor gefeit, Unrecht zu begehen. Diese Menschen sind da und gehören in unsere Mitte.

Was müssten wir vielleicht ändern im Umgang mit ihnen?
Was ich mir vor allem wünsche, ist, dass wir die Gefängnisseelsorger und die Menschen in Haft nicht vergessen. Dass wir für sie beten. Der Anstaltsleiter hat mir gesagt: Man darf sich keine Illusionen machen. Viele der Häftlinge, die nach sieben, acht, zehn Jahren rauskommen, haben große Schwierigkeiten, im normalen Leben wieder Fuß zu fassen, viele werden rückfällig. Aber manchmal kommt jemand geläutert heraus. Und bei denen, die rückfällig geworden sind, ist es besonders wichtig, dass wir als Kirche da sind. Dass sie in Gesprächen Nähe und Akzeptanz erfahren. Das ist schon etwas ganz Wertvolles.