Wer darf die Erinnerung bestimmen?

Mehr als 100.000 Hamburger haben für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge gestimmt. Überlebende des Holocaust sprechen sich jedoch dagegen aus. Über das Recht, die Erinnerung zu gestalten.

Am Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November 2020, versammeln sich Anwohner zur Mahnwache auf dem Platz
Am Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November 2020, versammeln sich Anwohner zur Mahnwache auf dem PlatzPicture Alliance /dpa /Christian Charisius

Hamburg. Kalt weht der Wind über die grauen Steine des Joseph-Carlebach-Platzes. Ein paar Tauben hüpfen über das geometrische Muster, das sich in komplexen Linien über das Pflaster zieht. Doch es ist nicht irgendein ästhetisches Mosaik, was die Fläche in unmittelbarer Nähe der Hamburger Universität schmückt. Der Kreis steht für die Kuppel, die Geraden zeichnen die Dachbalken des jüdischen Gotteshauses nach, das hier einst stand – und vielleicht in einigen Jahren wieder stehen soll.

Mehr als 100.000 Hamburger Bürger stimmten in den vergangenen Monaten für den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge. Zu der Kampagne hatte die Bürgerinitiative „Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatz­synagoge.“ aufgerufen. „Wir haben uns den Erfolg erhofft, erwarten konnten wir ihn nicht“, sagte Daniel Sheffer, Initiator der Kampagne.

Ein Zentrum des Dialogs

Der Hamburger Unternehmer hat eine Initiative zum Wideraufbau der früher größten Synagoge der Stadt gestartet. Innerhalb kurzer Zeit habe die Initiative unzählige private wie institutionelle Unterstützer an ihrer Seite gehabt. Ab Spätsommer solle eine Machbarkeitsstudie die weitere Gestaltung realisieren. Die Initiative möchte am Bornplatz, dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz, ein „Zentrum des Dialoges und der Begegnung“ schaffen, „damit Antisemitismus und Vorurteile nicht weiter ihren Weg in die Gesellschaft finden“, hieß es.

Die Synagoge am Bornplatz im Jahr 1906
Die Synagoge am Bornplatz im Jahr 1906Wikimedia Commons

Doch das stößt nicht überall auf ungeteilte Begeisterung. „Als Historiker habe ich immer ein Problem damit, wenn Geschichte unsichtbar gemacht wird“, sagt Stephan Linck. Der Historiker ist Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit an der Evangelischen Akademie der Nordkirche.

Lücke wird beseitigt

Nach dem Krieg sei der Platz jahrzehntelang ignoriert worden, bis in den 80er-Jahren der Umriss der alten Synagoge als Bodenmosaik in den Platz gelegt worden sei. „Die Idee hinter diesem Denkmal ist die Lücke“, erklärt Linck. Eine Leerstelle im Stadtbild und im Leben der Menschen, die durch das Kunstwerk spürbar gemacht wurde. Und genau an diesem Ort soll nun die Synagoge wiederaufgebaut werden. „Auf der einen Seite macht das schon Sinn“, räumt Linck ein. Denn so werde die Botschaft gesendet, dass der Nationalsozialismus die Hamburger Juden nicht kleinbekommen habe. Aber der Wiederaufbau der größten Synagoge Norddeutschlands beseitigt eben auch die Lücke, die die Nazis ins Stadtbild und die Gesellschaft geschlagen haben.

Die Diskussion bewegt auch die Überlebenden der Schoah weltweit. Die Hamburger Jüdin Erika Estis meldete sich aus New York in einem Brief zu Wort, indem sie die Zerstörung der Gedenkstätte als herzzerreißend“, „beschämend“ und „schändlich“ bezeichnet. Moshe Zimmermann, Antisemitismusforscher und Sohn geflüchteter Hamburger Juden, kritisiert im Tagesspiegel, „die Initiative, den Gedenk- und Erinnerungsort durch den Bau einer Replik der alten Synagoge zu ersetzen, ist eine Verletzung der Grundnormen des historischen Gedenkens, ein pietätloser Akt.“

Unlösbarer Konflikt

Wer hat das Recht, Erinnerung zu gestalten? Die Jüdische Gemeinde oder die Hamburger Überlebenden der Nazi-Verfolgung? Moralisch ein unlösbarer Konflikt. Hier begegnen sich zwei gegensätzliche Interpretationen zum Umgang mit Vergangenheit. „Plötzlich sind wir Zuschauer eines jüdischen Konflikts“, so Linck. Erinnerungskultur sei immer schwierig, „aber ich finde es toll, dass dieser Diskurs gerade so lebhaft geführt wird.“