Wenn der unsichtbare Chor singt

In der Hamburger St. Johannis-Kirche führt ein Chor Mozarts Requiem auf, doch die Chorempore bleibt leer. In kleinen Gruppen haben die Mitglieder ihre Teile eingesungen – zu einer Klanginstallation.

Kantor Christopher Bender beim Einspielen einer Chorsequenz mit drei Sängern
Kantor Christopher Bender beim Einspielen einer Chorsequenz mit drei SängernPrivat

Hamburg. Wenn Mozarts Requiem ab 1. November täglich in der St.-Johannis-Kirche Harvestehude aufgeführt wird, dann sind die Besucherreihen so gefüllt, wie es derzeit möglich ist, die Stühle auf Podium und Chorempore bleiben aber leer. Trotzdem sind knapp 100 Sänger des „Chores St. Johannis“ und des „Vokalwerks Hamburg“ zu hören. Kantor Christopher Bender hat in den vergangenen drei Monaten in kleinen Gruppen Mozarts Requiem einsingen lassen und die Stimmen hinterher zusammen­gemischt. Dazu spielt er am Rechner ein Orchesterplayback ein. Das Ergebnis ist ein unsichtbarer Chor als ungewöhnliche Klanginstallation, optisch begleitet von einem Video.

„Als wir im Sommer die Chorarbeit draußen und mit Abstand wieder aufnehmen konnten, hat sich gezeigt, dass die Sänger immer schlechter wurden“, berichtet Bender. „Durch die Abstände konnten sie einander schlecht hören und fingen an, fast zu schreien.“ Deshalb suchte der Kirchenmusiker nach einem anderen Format und kam auf die Idee, ein gewaltiges Klangpuzzle zu schaffen. „Mozarts Requiem war in diesem Jahr als Konzertreise geplant, und viele kannten das Werk schon.“ Deshalb beschloss Bender, den Chor in sechs Kleingruppen zu teilen und einzeln mit ihnen die Partien zu proben. „Die anderen Sänger waren zu Hause per Video zugeschaltet, haben dort mitgesungen und sich zu den Noten Notizen gemacht.“

„Erstaunliche Qualität“

Das sei sehr effektiv gewesen, denn dadurch habe sich keiner in der Masse verstecken können. „Auf diese Weise stand jeder in der ersten Reihe, und die Sänger haben sich wieder selbst wahrgenommen“, berichtet Bender. Jeder habe zu 100 Prozent mitgesungen. So sei eine erstaunliche Sangesqualität erreicht worden.

Auch für die Orchesterbegleitung hatte der Kantor eine Idee. Weil er sich immer schon für elektronische Musik und Studiotechnik interessiert hat, habe er ein Profiprogramm auf dem PC, in dem jeder Ton in unterschiedlichen Dynamiken vorhanden sei. „Damit stand mir eine Tonbibliothek zur Verfügung, aus der jeder Ton mit unterschiedlicher Tonhöhe und -dauer einspielbar ist.“

Perfektes Playback

In 600 bis 800 Stunden Kleinarbeit hat Bender die einzelnen Töne zu Musikstücken zusammengesetzt – bis er die Musik hatte, die er wollte. „Ich habe das hintereinander gemacht, was sonst 30 Musiker zusammen machen.“ Am Ende hatte er ein perfektes Playback, zu dem die Sänger jeweils zu viert die Chorstimmen hinzufügten.

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„Gesungen haben immer Männerstimmen, Alt oder Sopran in Kleingruppen“, beschreibt Bender das Procedere. Das sei zunächst für alle ungewohnt gewesen, alle hätten sich aber auch sehr viel Mühe gegeben. „Wenn das live gewesen wäre, wäre die Qualität unglaublich.“ Bender setzte aus den verschiedenen Teilen den Chor zusammen, und fertig war die Installation.

Kein Modell für die Zukunft

Als ein befreundeter Videokünstler von dem Requiem-Projekt hörte, steuerte er eine optische Begleitung in Form eines Videos bei. „Dadurch entsteht eine künstlerische Metaebene“, erklärt Bender. „Gezeigt wird ein Flug über eine Landschaft, der sich der Geschwindigkeit der Musik anpasst.“ Reale und digitale Welt würden mit Publikum, aber ohne Musiker verschmelzen. „Das Ergebnis ist eine Art Hybrid-Modell.“

Das Erlebnis wird einzigartig sein, denn Bender sieht darin ein einmaliges Erlebnis, aber kein tragfähiges Modell für die Zukunft. „Es ist angemessen für die Zeit“, sagt er, „bei der Installation können viele Besucher mit Abstand über 14 Tage die Musik hören.“ Auf der anderen Seite fehle natürlich die Interaktion der Künstler untereinander und mit dem Publikum. Doch angesichts der Pandemie sei die Installation eine gute Möglichkeit, dennoch das Requiem in voller Besetzung aufzuführen. „Für die Chorsänger bedeutet das, dass sie erstmals in ein Chorkonzert gehen können, um sich selbst singen zu hören.“

WAS: Mozarts Requiem als Konzert-Installation
WANN: vom 1. bis 15. November, täglich um 20 Uhr
WO: in der St.-Johannis-Kirche in Hamburg-Harvestehude, Ecke Turmweg / Heimhuder Straße
Die Karten kosten bei freier Platzwahl einheitlich 10 Euro, erhältlich bei der Konzertkasse Gerdes (Telefon 040/453326) oder über www.eventim.de.