Wenn Arbeit zur Sucht wird

„Hallo, mein Name ist Thomas. Ich bin arbeitssüchtig.“ So wie Thomas (Name geändert) stellen sich Teilnehmende von Selbsthilfegruppen vor. Seit Kurzem gibt es in Hamburg die Gruppe der Anonymen Arbeitssüchtigen, die Thomas gegründet hat. „Bei der Arbeitssucht ist es so, dass man sich immer wieder Beschäftigungen sucht, um sich nicht mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen“, erklärt er. Für ihn ist die Sucht unabhängig von der Art des Arbeitsverhältnisses. „Das betrifft auch Menschen, die ganz viele Ehrenämter haben und eigentlich keine Freizeit mehr. Diese Menschen sollten überlegen‚ ob das noch gesund ist.“

Etwa zehn Prozent aller Erwerbstätigen seien von Arbeitssucht betroffen, schätzt Arbeitssoziologe Eike Windscheid-Profeta. „Besonders verbreitet ist suchthaftes Arbeiten unter Soloselbstständigen sowie Führungskräften“, sagt der Referatsleiter bei der Hans-Böckler-Stiftung. Grund hierfür sei vor allem die höhere Verantwortung. „Das führt nicht selten zu einer dysfunktionalen Fehlinterpretation der eigenen Vorbildfunktion. Oder es macht ein Abschalten der eigenen Arbeit angesichts der hochgradig existenziellen Bedeutung unmöglich.“

Auch Thomas hat das erlebt, die Symptome waren deutlich: „Sei es die Unfähigkeit, mich arbeitsmäßig zurückzuhalten, sei es die Unfähigkeit, Projekte anzufangen.“ Das gehe in beide Richtungen. „Arbeitssucht ist nicht immer, dass man zu viel arbeitet. Es gibt auch Phasen, in denen man gar nicht anfangen kann zu arbeiten.“ Dass er nicht einfach ein Workaholic, sondern süchtig ist, zeigten bei Thomas äußerliche Symptome wie Vernachlässigung des Privatlebens bis zum Burn-out.

Dabei ist die Arbeitssucht als Krankheitsbild im Sinne einer Suchterkrankung nicht ganz unumstritten. „Diagnostisch betrachtet wird Arbeitssucht nicht als Suchterkrankung geführt, sondern als nicht näher klassifizierte Impulskontrollstörung“, ordnet Arbeitswissenschaftlerin Elisabeth Wienemann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ein. Krankhaftes Arbeiten könne dennoch suchthaft sein: „Die betroffenen Personen erleben in ihrem Arbeitshandeln, das anfangs zusätzlich oft mit viel Anerkennung von außen verbunden ist, einen ‘Kick’.“ Die Sucht äußere sich vor allem dadurch, das Verhalten nicht lassen zu können.

Die Selbsthilfegruppe der Anonymen Arbeitssüchtigen, die Thomas in der Kirchengemeinde St. Johannis in Harburg ins Leben gerufen hat, folgt dem Programm der Anonymen Alkoholiker. „In der Selbsthilfe kann das Zwölf-Schritte-Programm eine wirksame Hilfe sein, weil sich die betroffenen Personen auf dem Weg gegenseitig unterstützen“, sagt Arbeitswissenschaftlerin Wienemann. Der erste Schritt bedeute Einsicht, wiederholt Thomas das Mantra: „Wir haben zugegeben, dass wir unserem zwanghaften Arbeiten oder Nichtarbeiten gegenüber machtlos waren.“

In der Gruppe könne jeder sein, wie er ist, und auch Scham und Wut zeigen, berichtet Thomas. „Und wenn es jemandem schlecht geht, dann wird ihn am Ende jemand in den Arm nehmen, aber er wird nicht kritisiert“, betont er. Anschließend versprechen sich alle gegenseitig, nicht rückfällig zu werden, dabei gehe es immer nur um den nächsten Tag. „Weil mehr können wir nicht leisten.“ Sich selbst und dem Tag eine Struktur geben, sich immer wieder der eigenen Situationen und Kapazitäten bewusst machen – das ist jetzt die Aufgabe von Thomas.

Auch der Arbeitssoziologe Windscheid-Profeta findet das Zwölf-Schritte-Programm hilfreich für arbeitssüchtige Betroffene: Die Gruppe sei zudem „ein Raum zur vertrauensvollen Thematisierung“ eines Sachverhalts, der in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisiert werde. Prävention sei das entscheidende Stichwort, nicht nur im Privaten. Grundsätzlich sollten Thematik und Auswirkungen von suchthaftem Arbeitsverhalten nicht banalisiert werden. Windscheid-Profeta: „Ändern sich die Verhältnisse nicht, bleibt es dabei, dass suchthaftes Arbeiten als Individualproblematik ins Private verschoben wird.“