Artikel teilen:

Vor allem Frauen pflegen schwerstkranke Nachbarn oder Bekannte

„Bisher hat sich die Forschung kaum damit beschäftigt, ob Nachbarn oder Bekannte, die sich um einen Schwerkranken kümmern, vor besonderen Herausforderungen stehen“, sagt Nadja Berger. Die Soziologin arbeitet in Erlangen als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Projekt NOCA (Nichtverwandte Fürsorgende unheilbar erkrankter Menschen: Erfahrungen, Bedürfnisse und Beitrag zur Versorgung). Daran sind die Palliativmedizinische Abteilung des Uniklinikums Erlangen und die Medizinische Hochschule Hannover beteiligt. Sie wollen wissen, vor welchen Herausforderungen nichtverwandte Fürsorgende stehen.

Immerhin rund einer von zehn Menschen, die einen Schwerstkranken versorgen, sei mit diesem nicht verwandt, sagt Berger. „Beratungsstellen, Fortbildungen oder Selbsthilfegruppen wenden sich aber meistens nur an Angehörige. Wir möchten wissen, wie sich Nichtverwandte kümmern, wie oft sie helfen, was ihre Motivation ist und was ihnen das Helfen erleichtern würde.“

Berger führt Interviews mit Menschen, die einen totkranken Freund oder Nachbarn betreuen. „Viele der Befragten sind in Rente, die meisten sind Frauen. Sie übernehmen weniger körperliche Pflege, sondern helfen eher beim Einkaufen, im Haushalt oder bei Anträgen“, berichtet sie. Im Schnitt unterstützten Bekannte rund zwölf Stunden pro Woche.

„Es hat mich überrascht, dass sie das Kümmern nicht nur belastend finden, sondern auch etwas Positives daraus ziehen.“ Einige fühlten sich bereichert, auch weil ihre Beziehung zu der kranken Person tiefer geworden sei.

Noch bis Ende Januar 2026 werden für NOCA Interviews geführt. Wer jemanden betreut, mit dem er nicht verwandt ist, kann wahlweise auch einen Online-Fragebogen ausfüllen. Details aus den Gesprächen erzählt sie nicht, weil den Befragten absolute Anonymität zugesichert wird.

Studienteilnehmer werden noch gesucht. „Unser Ziel ist es, gesellschaftlich sichtbar zu machen, was Nichtverwandte leisten, wie sie Pflegekräfte und Angehörige ergänzen und welche konkreten Hilfsangebote sie benötigen“, so Berger. In einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der viele Menschen allein leben, seien gut funktionierende Hilfesysteme am Ende des Lebens wichtig.

Das findet auch Eva Förtsch, die an der Studie nicht teilnimmt. Die 48-Jährige kümmerte sich fast fünf Jahre lang um ihren schwerkranken Nachbarn Helmut Sch. „Als ich mit meinem Mann nach Fürth zog, waren Sch. unsere Nachbarn, wir wohnten quasi Fenster an Fenster.“ Helmut und Roswitha Sch. waren in etwa so alt wie ihre Eltern. Man unterhielt sich über die Hunde, und als Eva Förtsch und ihr Mann zwei Kinder bekamen, freuten sich die kinderlosen Nachbarn mit. „Sie lebten zurückgezogen, aber wir unterhielten uns am Gartenzaun“.

Helmut Sch. war nach vielen Arbeitsjahren, in denen er Lacke gemischt und giftige Dämpfe eingeatmet hatte, sehr krank. „Aber dann starb überraschend seine Frau vor ihm.“ Und Eva Förtsch half – bei der Organisation der Beerdigung, dem Papierkram. Sie wurde schnell zur wichtigsten Person im Leben ihres Nachbarn.

Eva Förtsch hat eine kaufmännische Ausbildung gemacht und anschließend Soziale Arbeit studiert. „Viele, die Bekannte betreuen, haben einen sozialen Beruf oder engagieren sich ehrenamtlich“, sagt Nadja Berger. Einige hätten in den Interviews genau wie Eva Förtsch gesagt: „Für mich war es selbstverständlich zu helfen. Denn ich wünsche mir schließlich auch, dass sich einmal jemand um mich kümmert.“

Helmut Sch. baute sich nach dem Tod seiner Frau ein kleines Netzwerk in der Nachbarschaft auf. Jemand half ihm im Garten, ein anderer kam regelmäßig auf einen Plausch vorbei. Doch Eva Förtsch, die halbtags im Büro arbeitete, wurde für alle zu jeder Zeit die Hauptansprechperson. Dreimal in der Woche musste der Nachbar in die Dialyse, sie bekam von dem Personal den Plan für seine Medikamente. Sie kaufte ein, organisierte einen Notfallknopf, als ihr Nachbar immer häufiger zu Hause stürzte. Im Krankenhaus erhielt Förtsch alle medizinischen Auskünfte, obwohl sie keine Verwandte war. „Ich hatte das Gefühl, dass die einfach froh waren, dass sich jemand kümmert.“

Sie habe immer im Kopf gehabt, wie es wohl gerade ihrem Nachbarn geht. „Wenn er morgens die Jalousien hochzog, wusste ich, dass er in den Tag gestartet war.“ Schlimm fand sie es, dass der tägliche Pflegedienst nie zuverlässig gewesen sei. „Er litt am Ende unter offenen Beinen. Einmal fand ich ihn zu Hause, er saß in einer Blutlache, weil die Pflegekraft seine Beine nicht ordentlich verbunden hatte.“ Das Krankenhaus habe ihn immer so schnell wie möglich entlassen und nicht gefragt, wer sich zu Hause um ihn kümmert.

Bis zum Ende siezten sie sich, kurz vor seinem Tod nahm sie zum ersten Mal seine Hand. „Die Jahren waren belastend, aber nicht hochemotional.“ Es sei keine Freundschaft gewesen, „unser Verhältnis war ja sehr einseitig, es ging um ihn und nicht um mich.“ Sie nennt es eine „vertrauensvolle Beziehung“. Sie habe immer gespürt, wie wichtig ihm ihre Hilfe war.

Kontakt zu Verwandten von Helmut Sch. hatte sie nie, was laut Nadja Berger nicht untypisch ist, wenn sich Nachbarn um Schwerstkranke kümmern. „Vielleicht liegt das daran, dass die Angehörigen einfach nicht vor Ort sind.“

Was hätte Eva Förtsch geholfen? „Krankenhäuser, die Patienten nicht so schnell wie möglich nach Hause schicken. Pflegedienste, die zuverlässig sind“, sagt sie, „Krankenhauspersonal, das einen Seelsorger ruft, wenn ein Mensch allein stirbt. Insgesamt mehr Verantwortungsbewusstsein für Menschen ohne Angehörige in der letzten Phase des Lebens.“ (3155/13.10.2025)