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Verleger und Visionär – Zum 150. Todestag von Jacques-Paul Migne

“Der Migne” – bis heute ist seine Ausgabe der Kirchenväter ein fester Begriff in der theologischen Forschung. Der französische Verleger schuf ein riesiges Lebenswerk – mit allein 667.855 Druckplatten.

Unermüdlicher Arbeiter, umstrittener Theologe, unbescheidener PR-Mann in eigener Sache: drei Facetten, die den größten Verleger theologischer Werke im 19. Jahrhundert charakterisieren. Seine Edition von Kirchenvätertexten, der wichtigste Teil seines fast 1.100 Bände umfassenden Werkes, ist noch heute in jeder großen theologischen Bibliothek zu finden. Fast erblindet, starb Jacques-Paul Migne am 24. Oktober 1875, vor 150 Jahren, am Vorabend seines 75. Geburtstags, in Paris.

Seine Geburt im Oktober 1800 im südfranzösischen Saint-Flour fällt mitten in die Französische Revolution, seine Jugend in die Zeit der Restauration. Das Bürgertum, das von der Revolution am meisten profitierte, steht dem Katholizismus nach wie vor sehr misstrauisch gegenüber. Die Kirche kämpft um ihren Platz in der “neuen” Gesellschaft.

In einem antiklerikalen Klima flüchten weite Kreise des Christentums in eine unkritisch-romantische Religiosität. Einstweilen bleibt die Priesterausbildung – wo es sie überhaupt gibt – sehr mittelmäßig. Und wie soll sich der Klerus ohne Bücher und Bibliotheken an die Geistesströmungen der Zeit herantasten können?

Der junge Priester Migne hat nie Vorlesungen besucht. Sein Lehrer ist ein Handbuch, das er nachts auswendig lernt. Nach seiner Weihe 1824 wird er zunächst Landpfarrer. Wegen allzu freimütiger Äußerungen verliert er jedoch nach der bürgerlichen Revolution von 1830 seine Stelle. Er geht als Journalist nach Paris und gründet dort mehrere Zeitungen – die er nach und nach alle wieder aufgibt.

1836 eröffnet Migne in Petit-Montrouge bei Paris eine große Verlagsanstalt, die “Ateliers Catholiques” mit Druckerei, Schriftgießerei, Buchbinderei und Buchhandlung. Ganz allein und ohne den finanziellen Rückhalt von Subskribenten geht er, Landpfarrer ohne besondere Bildung, eine wahre Herkules-Aufgabe an: die Herausgabe einer auf 2.000 Bände angelegten “Universalbibliothek des Klerus”.

Mit ihr will er Priestern ein umfassendes theologisches Rüstzeug an die Hand geben – und das, um möglichst viele zu erreichen, zu einem sensationell günstigen Preis. Jede Woche ein neuer Band, so lautet die selbst gesetzte Vorgabe. Nebenher konstruiert Migne Orgeln und baut eine erfolgreiche Fabrik für Kircheneinrichtung auf.

Sein einziges Kapital sind sein als geradezu fantastisch beschriebenes Improvisationstalent, ein eiserner Wille und eine Konstitution, die ihn auch längste Schlaflosigkeit durchhalten lässt. Einen “Bulldozer” nennt ihn sein Biograf Adalbert Hamman. 16 Stunden dauert sein gewöhnlicher Arbeitstag. Pausen, Unpünktlichkeit, Müßiggang, Urlaub: für Migne Fremdwörter.

Zahlreiche theologische Reihenwerke stammen aus den “Ateliers Catholiques”. Verbunden ist Mignes Name aber bis heute mit seinem Hauptwerk: den beiden Reihen des “Patrologiae cursus completus”, einer umfassenden Edition von Kirchenvätertexten. Die “Series latina” mit 221 Bänden reicht von Tertullian (ca. 150/160- ca. 220/240) bis zu Papst Innozenz III. (1198-1216). Die “Series graeca” mit ihrer lateinischen Übersetzung umfasst 162 Bände und endet 1439 mit dem Konzil von Florenz.

Trotz einer Sorgfalt, die für die Masse des bewältigten Materials und die geringen Mittel erstaunlich ist: Gerade in den frühen Bänden wurden diverse Druckfehler, Auslassungen und Dubletten nachgewiesen, die dem “Migne” auch heftige Kritik eingetragen haben. Mehrfach müssen er und seine theologischen Mitarbeiter sich vor Gericht wegen Diebstahls geistigen Eigentums wehren; berechtigter- wie unberechtigterweise.

In der Wahl seiner Mitarbeiter – darunter Bischöfe wie Félix Dupanloup und namhafte Professoren wie Heinrich Denzinger und Heinrich Joseph Floß – ist er ebenso geschickt wie in der Zurückhaltung, ihre Verdienste in seinen Werken zu erwähnen. Denn Migne ist auch ein guter Verkäufer: seiner Bücher, aber ebenso seines eigenen aufopfernden Einsatzes. Im Vorwort einer seiner Väter-Ausgaben nennt er den Bau von zehn Kathedralen gar ein Kinderspiel, verglichen mit der Größe seiner Aufgabe. Solche Unbescheidenheit hat ihm und seinem Unternehmen nicht nur genutzt.

Mehr als 300 Mitarbeiter beschäftigt Migne in seinem Imperium, unter ihnen zahlreiche gescheiterte Priester. Trotz permanenter Geldsorgen – schließlich muss er ohne jegliche Zuschüsse auskommen – werden die Gehälter stets überpünktlich angewiesen. Am 12./13. Februar 1868 jedoch zerstört ein Brand die Arbeit von Jahrzehnten: Von 667.855 Druckplatten bleibt nur ein Klumpen aus 600 Tonnen Blei.

Der druckfertige fünfte Registerband der “Patrologia latina”, vom Arbeitsaufwand unbezahlbar: verloren. 80 Bände Konzilsakten aus 16 Jahrhunderten: verloren; 80 weitere Bände christlicher Literatur: verloren. Das Archiv, eine zur Auslieferung fertige Orgel, die Möbelfabrik: verbrannt. Mignes größte Sorge jedoch gilt seinen “armen Arbeitern”. Trotz immer stärker werdender Zeichen körperlicher Erschöpfung begibt sich der 68-Jährige an den Wiederaufbau.

Die Wahl seiner Mittel bringt Migne allerdings schon bald in neue Schwierigkeiten. Wegen der Verwendung von Messstipendien für seinen Verlag wird er im Juli 1874 vom Pariser Erzbischof Joseph Hippolyte Guibert suspendiert. Mignes “Universalbibliothek des Klerus”, bis 1868 mit knapp 1.100 erschienenen Bänden fast in seinem wahnwitzigen Plansoll, war mit dem Brand praktisch zum Erliegen gekommen.