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Stückl inszeniert Familiendrama von US-Autor Branden Jacobs-Jenkins

Geht es ums Erben, zeigt sich erst der wahre Charakter eines Menschen. In “Appropriate” holt der US-Dramatiker Branden Jacobs-Jenkins am Beispiel einer Familie noch handfeste, bisher unbekannte Leichen aus dem Keller.

Ein dichter, im Halbrund angelegter Wald auf Leinwand umfasst die Bühne. Unter dem permanenten Zirpen der Grillen erheben sich Nebelschwaden aus dem See. Wild romantisch erscheint die Gegend, genauso wie die querliegenden, dicken Baumstämme im Vordergrund, vor denen sich das Schauspiel in den gut zweieinhalb Stunden ereignet. Am Freitagabend war am Münchner Volkstheater Premiere von “Appropriate”. Wie es sich gehört, so lautet die deutsche Übersetzung dieses englischen Wortes.

Intendant und Regisseur Christian Stückl hat sich das zeitgenössische Familiendrama des Pulitzer-Preisträgers Branden Jacobs-Jenkins ausgesucht. Stets sucht er nach Stücken mit Themen, mit denen sich die Gesellschaft aktuell konfrontiert sieht. Der “Süddeutschen Zeitung” sagte er zuletzt: “Dafür ist ja Theater da, dass du mit dir selber in der Auseinandersetzung kämpfst, dass du vor etwas gestoßen wirst.” Was das ist, wird den Zuschauenden bei dieser Aufführung nach und nach deutlich: ein düsterer Abend – mit einer tollen Schauspielleistung.

So idyllisch wie der erste Blick auf die von Stefan Hageneier wunderbar geschaffene Landschaft anmutet, ist Arkansas im Jahr 2011 nicht. Unter den tropischen Temperaturen in dem US-Südstaat gedeihen die Mücken, so dass die Protagonisten sich einsprayen und nebenbei das eine oder andere Insekt per Hand erschlagen. Familientreffen bei den Lafayettes ist nach dem Tod des Vater angesagt. Die Geschwister kommen zusammen: Toni, die älteste, die ihn bis zuletzt gepflegt hat, Bo, Yale-Absolvent und Jurist, der mittlerweile in New York lebt, und Frank, das schwarze Schaf mit seinen Drogen- und Alkoholeskapaden.

Das Haus soll am nächsten Tag versteigert werden. In der Diskussion darum, wie noch am besten Geld aus der Immobilie und dem Inventar herauszuholen ist, geraten alle schnell in Streit. Dabei ist offensichtlich, dass mit dem Erlös vor allem die vom Vater aufgenommenen Kredite bezahlt werden müssen. Da taucht beim Räumen ein Fotoalbum auf. Nicht versteckt, sondern wohl einsortiert im Regal. Darin enthalten: Bilder von Lynchmorden an nicht-weißen Menschen und andere rassistische Gewalttaten.

Wie kann das sein? Vor allem Tochter Toni (Lola Dockhorn) verteidigt vehement ihren Vater. Der sei doch nicht rassistisch gewesen, wenn dann war er halt “ein Sklave seiner Erziehung”. Doch Bos mit angereiste Frau Rachael (Carolin Hartmann) erinnert sich, wie der Schwiegervater bei einem Telefonat, bei dem er sich wohl unbeobachtet fühlte, bewusst von der jüdischen Frau seines Sohns sprach. Und deren Mann (Pascal Fligg) kommt jene Szene am ersten Tag in Yale in den Sinn: Als der Vater ihm beim Bezug des Studentenzimmers half, riet er ihm angesichts des afroamerikanischen Mitbewohners: “Sei vorsichtig.”

Die Familie wird noch tiefer mit dieser unbekannten Vergangenheit konfrontiert, als eine Kiste mit Einweckgläsern auftaucht, die “anatomische Funde” konservieren. Die Auseinandersetzung eskaliert, weil jeder auch sein eigenes, nicht aufgearbeitetes Paket an Problemen mit sich schleppt. Und nicht nur das: Die geschiedene Toni bildet mit ihrem schwulen Sohn Rhys (Lasse Stadelmann) ein Team, und bei dem sich auf Versöhnung mit der Familie eingestellten Frank (Jawad Rajpoot) hat dessen Verlobte River ein Wörtchen mitzureden. Marlene Markt spielt diese leicht durchgeknallte Esoterikerin, die mit selbst gebackenen veganen Waffeln und Räucherstäbchen-Ritualen zur Friedensstiftung beitragen will – nicht ohne eigene Interessen.

Das Album macht die Runde, selbst Cassie (Gio Yoo), die 13-jährige Tochter von Bo und Rachael, bekommt es in die Finger. Dabei will man die Tochter doch schützen. Die aber erklärt ihren Eltern, auf dem Handy ganz andere Sachen gesehen zu haben. Die Zuschauer bekommen einen reduzierten Eindruck von den Bildern mittels eingespielter Videos über Leinwand mit, darunter Demos mit Ku-Klux-Klan-Vertretern, aber auch mit dem Bürgerrechtler Martin Luther King Jr.

Betroffenheit ja, aber da ist auch die Gier. Als Bo recherchiert, dass für solch “historischen Bilder” gewisse Kreise bereit seien, viel Geld zu bezahlen, muss das schlechte Gewissen den Dollars weichen. Er aber hat die Rechnung ohne seinen Bruder gemacht. Der taucht neugetauft und allen Schmerz hinter sich lassend von einem Bad im See wieder auf – das Album hat er dabei gleich mitversenkt.