Streiterin für eine menschliche Psychiatrie

Nach einer Psychose wurde die Hamburgerin in der NS-Zeit zwangssterilisiert. Seit langem wirbt Dorothea Buck für eine neue Form der Psychiatrie. Heute wird die Künstlerin 100 Jahre alt.

Dorothea Buck lebt im Pflegeheim des Albertinen-Hauses in Hamburg-Schnelsen
Dorothea Buck lebt im Pflegeheim des Albertinen-Hauses in Hamburg-SchnelsenChristoph Keller / epd

Hamburg. Mit 19 Jahren erlebte Dorothea Buck 1936 ihre erste schizophrene Psychose. Sie kam in die Psychiatrie der diakonischen Stiftung Bethel (Bielefeld). Dass sie dort zwangssterilisiert wurde, erfuhr sie anschließend nur durch einen Zufall. Traumatisiert hat sie vor allem, dass in der Psychiatrie niemand mit ihr sprach. Seit Jahrzehnten kämpft Dorothea Buck für eine Psychiatrie, die ihre Patienten ernst nimmt und befragt. Am 5. April feiert sie in Hamburg ihren 100. Geburtstag. Einen Tag später veranstaltet die Uni-Klinik Eppendorf ihr zu Ehren einen Psychiatrie-Kongress.
An den 2. März 1936 erinnert sich die Pastorentocher noch gut. "Es überfielen mich drei Sätze mit einer Wucht, die mich fast zu Boden drückte", sagt Dorothea Buck. Es werde ein ungeheuerlicher Krieg kommen, sie sei die "Braut Christi" und sie werde "einmal etwas zu sagen haben". Ihr Hausarzt empfahl einen Aufenthalt in der Psychiatrie der Stiftung Bethel. Erst später erfuhr sie, dass die Ärzte die Mutter vor die Wahl gestellt hatten: Entweder die Tochter wird zwangssterilisiert, oder sie muss in Bethel bleiben, bis sie keine Kinder mehr bekommen kann. Die Schwestern sagten ihr vor der Sterilisation lediglich, es handele sich um "einen notwendigen kleinen Eingriff". 

Keine Gespräche, keine Behandlung

In Bethel wurden während der NS-Diktatur insgesamt 1.200 Menschen zwangssterilisiert, haben Recherchen der Stiftung ergeben. Im Jahr 2001 ist ein Mahnmal für die Opfer eingeweiht geworden, auch Dorothea Buck war bei der Zeremonie dabei.
Als sie als junge Frau in Bethel war, bekam sie Beruhigungsspritzen, musste bis zu 23 Stunden in einer warmen Badewanne liegen und wurde über Stunden in nasse Tücher festgewickelt. Nie wieder in ihrem Leben, so erzählt sie, habe sie solche Angst erlebt. "Keine ärztliche Untersuchung, kein Gespräch und keine Behandlung." Menschliche Zuwendung sei durch Bibelverse ersetzt worden. Nach neun Monaten wurde sie wieder entlassen.
Ein Beruf mit Kindern wurde ihr untersagt, daher begann sie eine Ausbildung zur Töpferin. Nach Kriegsende war sie in Hamburg als Bildhauerin tätig. Die meisten Aufträge kamen von öffentlichen Institutionen als "Kunst am Bau". Von 1969 bis 1982 war sie Kunstlehrerin an der Fachschule für Sozialpädagogik.

Geheilt erst nach dem fünften Schub

Erst nach dem fünften Schub 1959 fühlte sie sich geheilt. Geholfen habe ihr die Einsicht, Schizophrenie als Ausdruck einer Lebenskrise zu verstehen, sagt sie heute. Sie war maßgeblich beteiligt in der Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen Ende der 80er Jahre. 1992 gründete sie mit anderen den Bundesverband, dessen Ehrenvorsitzende sie heute ist.
Vor wenigen Jahren ist Dorothea Buck aus ihrem Gartenhaus in Hamburg-Schnelsen in ein benachbartes Pflegeheim gezogen. Dank einer künstlichen Augenlinse kann sie immer noch gut lesen. Wenn sie sich über die abgeholzten Bäume vor ihrem Fenster empört, wird noch immer ihre Lebensenergie spürbar.
1990 erschien ihre Biografie "Auf der Spur des Morgensterns". Mehr als zehn Jahre lang warb sie auf ihren Lesereisen im In- und Ausland für einen "Trialog" zwischen Betroffenen, Angehörigen und Psychiatern. Ihr Buch machte offenbar vielen Psychiatrie-Erkrankten Mut, über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. An der Hamburger Uni-Klinik Eppendorf war sie 1989 Mitbegründerin des ersten Psychose-Seminars.

Beim Psychiatrie-Kongress dabei – via Skype

Ihre Freude an kontroversen Diskussionen hat sie sich auch im hohen Alter bewahrt. Vieles habe sich in der Psychiatrie verbessert, sagt sie. Aber auch heute noch gebe es dort zu viele "seelische Dummköpfe". Sie würden Schizophrenie als unheilbare Störung des Hirn-Stoffwechsels betrachten, die allein mit Medikamenten behandelt werden müsse.
Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhielt sie 1997, elf Jahre später das Große Bundesverdienstkreuz. Ein Wohnheim für psychisch kranke Menschen im westfälischen Bottrop wurde 1996 nach ihr benannt. Dorothea Buck sei eine "außerordentlich mutige, streitbare und kämpferische Persönlichkeit", bescheinigte ihr der Hamburger Senat im Februar bei der Verleihung der Ehrenmedaille. Sie habe "wegweisende Veränderungen in der Psychiatrie angestoßen".
An ihrem 100. Geburtstag will sie nur einige wenige Freunde empfangen. Wenn zu viele Menschen bei ihr sitzen, könne sie nichts mehr verstehen, sagt sie. Wenn am 6. April Psychiater, Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Publizisten ihr zu Ehren in der Uni-Klinik über Menschenwürde in der Psychiatrie diskutieren, kann Dorothea Buck aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein – sie wird sich aber per Skype dazuschalten. (epd)