„Religion wird bei Radikalisierung überbewertet“

Ein Forschungsprojekt der Unis Osnabrück und Bielefeld kommt zu dem Ergebnis: Einschneidende Erfahrungen sind viel wichtiger – weil radikale Ideologien einfache Auswege versprechen.

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Osnabrück/Bielefeld. Die Religion spielt nach Forschungen des Osnabrücker Islam-Experten Michael Kiefer bei der Radikalisierung junger Muslime seltener als bisher angenommen eine herausragende Rolle. Vielmehr trügen auch die individuelle Persönlichkeit, das soziale Umfeld und oftmals kritische Lebensereignisse dazu bei, dass ein junger Mensch sich einer radikalislamischen Ideologie anschließe, sagte der Wissenschaftler dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Radikalisierung ist ein vielschichtiger Prozess.“

Kiefer, der am Institut für Islamische Theologie in Osnabrück lehrt, leitete das zweijährige Forschungsprojekt „Religion als Faktor der Radikalisierung“, dessen Ergebnisse jetzt vorliegen. Wissenschaftler der Universitäten Osnabrück und Bielefeld hatten sich dabei intensiv mit den religiösen Vorstellungen radikalisierter und radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher in Deutschland auseinandergesetzt.

„Lego-Islam“ eine Verlockung

Einschneidende Erfahrungen wie die Trennung der Eltern, der Tod oder die schwere Erkrankung einer nahestehenden Person machten Heranwachsende anfällig für „Eindeutigkeitsangebote“, die die Welt in Schwarz und Weiß einteilten, erläuterte Kiefer. Die Anführer radikalislamischer Ideologien zeigten ihnen einen vermeintlichen Ausweg aus ihrer belastenden Situation, ohne dass sie dafür etwas leisten müssten. „Es reicht die Zugehörigkeit zur Religion.“ Die Jugendlichen erlebten dies als unmittelbare Aufwertung, erführen Kameradschaft und fühlten sich ermächtigt, im Namen Gottes Gewalt auszuüben.

Die Religiosität der radikalisierten jungen Menschen lasse sich grob in zwei Kategorien einteilen, sagte der Islamwissenschaftler. Ein Großteil sei religiös sehr wenig gebildet und bastele sich einen sogenannten „Lego-Islam“ selbst zurecht. Diese Jugendlichen seien gut mit Deradikalisierungsprogrammen zu erreichen und auf einen guten Weg zurückzubringen.

Fall für Sicherheitsbehörden

Ein anderer Teil sei durch ihre Familien bereits in einem radikalislamischen Milieu aufgewachsen, etwa in Tschetschenien oder Bosnien. Diese Gruppe junger Muslime ist Kiefer zufolge häufig gebildet und vertritt eine festgefügte islamistische Ideologie, die nur schwer aufzubrechen ist: „Sie gehören zu den Kadern und sind eher ein Fall für die Sicherheitsbehörden.“

Für diejenigen, die sich mit Prävention und Deradikalisierung befassten, bedeuteten die Ergebnisse, dass sie sich intensiver mit den Lebensumständen junger Muslime auseinandersetzen müssten. In Schulen solle die Krisenbegleitung durch Sozialarbeiter eine größere Rolle spielen, sagte Kiefer.

Wie Moscheegemeinden helfen können

Wichtig sei zudem, ihr Demokratie-Verständnis zu stärken und die Fähigkeit, Vieldeutigkeit und Unsicherheit zu ertragen. Moscheegemeinden könnten ihren Teil dazu beitragen, indem sie gute Freizeitangebote vom Fußball bis zum Zeltlager machten. (epd)