Nikolaus Schneider, der Kur-Prediger von Prerow

Drei Wochen lang hat der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende hat auf dem Darß gearbeitet – als Kurprediger. Bei einem Gemeindenachmittag sprechen Schneider und seine Frau Anne über Gott, den Tod und die Harmonie in einer langen Ehe.

Anne und Nikolaus Schneider vor dem Gemeindehaus von Prerow
Anne und Nikolaus Schneider vor dem Gemeindehaus von PrerowSybille Marx

Prerow. Nun fängt sie wieder damit an! Nikolaus Schneider, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), rollt mit den Augen. Gerade hat seine Frau Anne, die ehemalige Religionslehrerin mit dem wachen Blick und dem streitlustigen Mundwerk, wieder so einen Satz gesagt: Dass sie, wenn die Ärzte bei ihr im Juni feststellen würden, dass der Brustkrebs zurück sei und keine Chemo ihn auf Dauer vertreiben könnte – dass sie dann ihr Leben selbst beenden wolle.
„Ich glaube, dass mein Gott mir diese Freiheit gegeben hat“, sagt sie fest. Und weiß, dass ihr Mann es anders sieht. Schneider betrachtet den Zeitpunkt des Todes als ein „Tabu“, als etwas Unverfügbares, das der Mensch nicht anrühren darf.
Nikolaus und Anne Schneider. Vor etwa eineinhalb Jahren sorgten der damals noch oberste Repräsentant der rund 23 Millionen Protestanten in Deutschland und seine Frau für Schlagzeilen mit ihren Ansichten zur Sterbehilfe, jetzt sitzen die beiden Ruheständler im lichtdurchfluteten Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Prerow auf dem Darß. In den vergangenen drei Wochen hat Schneider hier als Kurprediger gewohnt und gearbeitet, den Ortspastor entlastet, Gottesdienste und Vorträge gehalten, als Seelsorger mit Urlaubern und Anderen Gespräche geführt – und gerade eben einen Gemeindenachmittag mit seiner Frau gestaltet. Das Thema: Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit.

An der Kaffeetafel mit den Schneiders

Aus der Gemeinde, der Kurklinik und von anderswo sind 20 Besucher gekommen, dicht gedrängt sitzen sie an der Kaffeetafel. Und Schneiders erzählen, wie viel Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit sie selbst noch hatten, damals im Jahr 2005, als ihre jüngste Tochter Meike an Leukämie starb. 22 Jahre war sie erst alt. Ein hübsches Mädchen voller Pläne und Lebenslust.
„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“
Der berühmte Widerstandskämpfer und Theologe Dietrich Bonhoeffer hatte diese Zeilen 1944 in der Todeszelle geschrieben, wenige Monate vor seiner Hinrichtung durch die Nazis. „Meike, Du Liebe“, schreibt die ebenfalls theologisch geschulte Anne Schneider viele Jahrzehnte später in einem Brief an ihre verstorbene Tochter: „ob Du wohl inzwischen Zeit und Gelegenheit hattest, Bonhoeffer zu fragen, warum er diesen für uns so anstößigen und ärgerlichen Vers in dem für uns so wichtigen Gedicht und Lied geschrieben hat?“

„Von guten Mächten wunderbar geborgen“, dieses Bonhoeffer-Lied habe sie in den zwei Jahren der Leukämie ganz oft mit oder für Meike gesungen, erzählt Anne Schneider ihren Lesern im Buch „Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist“ und auch den Zuhörern in Prerow. Aber die dritte Strophe, die hätten sie immer ausgelassen. „Wir wollten und konnten nicht glauben oder gar singen, dass wir diesen Kelch ‚dankbar‘ und ‚ohne Zittern‘ aus Gottes Hand nehmen sollten“, sagt Anne Schneider.

Wenn der Mensch an seine Grenzen stößt

Dass Gott den Kelch des Leids auch denen zumute, die ihn lieben, davon sei sie immer überzeugt gewesen, „aber erwartet Gott denn wirklich Dankbarkeit, furchtlose Tapferkeit und Gelassenheit beim Trinken dieses Kelches?“ Bis heute, erzählen Anne und Nikolaus Schneider ihren Zuhörern, schmerze der Verlust von Meike, bleibe da eine Lücke.
Ein wenig schulmeisterlich, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, steht Nikolaus Schneider dann am Kopf der Tafel und versucht, mit den vorwiegend älteren Besuchern ins Gespräch zu kommen. „Möchte noch jemand etwas sagen?“ Ein paar einzelne Besucher erzählen von eigenen Leid-Erfahrungen. Vom Vater etwa, der nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Anblick unzähliger Toter zu seiner Tochter sagte, einen Gott könne es nicht geben – und der dann doch im Abschiedsbrief vor seinem Suizid schrieb: „Gott helfe mir!“
Nikolaus Schneider sagt, es sei wichtig, im Blick auf das eigene Leid und die Trauer ehrlich zu sein. „Man darf kein Idealbild aufbauen und denken: So müsste ich als Christ reagieren.“ Bei der Theodizee-Frage, der Frage, wieso Gott so viel Leid zulasse, stoße der Mensch einfach an seine Grenzen. „Manche zerbrechen daran und finden keinen Weg“, sagt Schneider. Andere machten trotz allem die Erfahrung, sich von Gott getragen zu fühlen.

Und schon wieder der Krebs

Er selbst und seine Frau gehören offenbar zur zweiten Gruppe. „Wenn ich versuche, für mich klar zu kriegen, wie ich nach Meikes Tod eigentlich noch predigen und Pastor sein konnte, nicht nur irgendwie, sondern aus voller Überzeugung, dann muss ich sagen: Es liegt daran, dass wir bei Meikes Sterben die Erfahrung gemacht haben, von Gott nicht verlassen zu sein“, sagt Nikolaus Schneider. In der Klinik waren sie damals dabei, hielten den Kopf ihrer sterbenden Tochter.
Natürlich sei danach ein Gefühl der Überforderung hereingebrochen. „Nichts kann man dann mehr, gar nichts“, sagt Nikolaus Schneider. „Aber dass wir das überlebt haben, dass wir nicht größere Verwundungen erlitten haben“, das sei der fast mystischen Erfahrung zu verdanken, in dieser Stunde des Abschieds selbst von Gott gehalten worden zu sein.
Und dann diagnostizierten die Ärzte 2014 eine Krebserkrankung bei Anne Schneider, immerhin so weit fortgeschritten und so aggressiv, dass ihr Mann zwei Jahre früher als geplant den EKD-Vorsitz abgab. Schoss da nicht noch einmal alle Trauer hoch und auch die eine große Frage: Wieso, Gott, mutest Du uns so viel zu?
Anne Schneider schüttelt den Kopf. „So habe ich nie gedacht“, sagt sie. „Die Diagnose hat mich erschreckt und geängstigt, aber die Theodizee-Frage stelle ich mir viel eher, wenn ich an Auschwitz denke oder an den ‚Islamischen Staat‘.“ So erfüllt sei ihr Leben gewesen, so reich. „Wie blind müsste ich sein, um das nicht zu sehen?“

Anne Schneiders Kräfte kehren zurück

Dass harte Monate hinter ihr liegen, leugnet Anne Schneider aber nicht. Chemotherapie, Operation, Bestrahlung, Antikörpertherapie. Vor allem die quälende Chemo habe sie manchmal nur mit dem Gedanken ertragen, dass es Hoffnung auf Erfolg gebe, sagt Anne Schneider. Oder dass sie im anderen Fall ihrem Leben ein Ende bereiten könnte. Dass ihr Mann dank seines beruflichen Ausstiegs viel Zeit für sie hatte, oft bei ihr sitzen oder auch mal Wadenwickel wechseln konnte, wenn das Fieber hoch stieg – „dafür bin ich so dankbar.“ Und auch er habe dieser Zeit etwas Gutes abgewinnen können, behauptet sie augenzwinkernd. „Damals war ich so schwach, dass ich ihm nicht so oft widersprechen konnte wie sonst!“
Seit ein paar Monaten sind in Anne Schneiders Körper nun die Lebenskräfte zurückgekehrt. Jetzt muss er wohl wieder mit ihr diskutieren, dieser freundliche, ruhige, sachliche Nikolaus Schneider. Zum Beispiel eben über die Frage, wie groß der Verantwortungsraum ist, den Gott dem Menschen am Ende des Lebens lässt. „Das haben wir aber eigentlich ausdiskutiert“, sagt Anne Schneider. Denn das Thema beschäftige sie beide schon seit Jahrzehnten, nicht erst seit der Krebserkrankung.
„Ich liebe ja Harmonie“, sagt Schneider dann lächelnd, „aber meine Frau liebt es, sich zu streiten!“ – „Nein, nein“, erklärt Anne Schneider. „Nicht streiten. Diskutieren.“
Buchtipp
„Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist“
von Anne und Nikolaus Schneider
2006, 5. Auflage 2015
9,99 Euro

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