Nicht nur bei Nacht

Über das Reich Gottes und seine Visionen schreibt Rainer Neumann. Er ist Pfarrer im Ruhestand in Greifswald.

Adolf Riess / Pixelio

Der Predigttext des kommenden Sonntags lautet: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Johannes 3, 1-8

Schon merkwürdig, wo meine Aufmerksamkeit beim Lesen hängen geblieben ist: „von Neuem geboren“! Beim ersten Blick auf den Text interessiert mich das nicht. Aber dann lese ich die wenigen Verse öfter und spüre: Schon vor Beginn der Begegnung mit Jesus ist Nikodemus schon von Neuem geboren; denn Nikodemus fragt! – Na und?, mögen Sie sich fragen. Aber Nikodemus ist nicht irgendwer. Er ist „ein Oberster der Juden“. Kein kleines Licht, sondern ein Bestimmer – einer, der Entscheidungen treffen kann.

Ein Oberster also: womit vergleichen? Vielleicht war er wie ein Bischof? Oder wie ein Super­intendent, wie ich es früher war? Wir sind oder waren im System und denken im Handlungszusammenhang unseres Alltages. Das ist zwar unvermeidlich, aber vor allem unbewusst. Erst im Ruhestand merke ich, wie gefangen meine Gedanken während meiner Berufstätigkeit waren. Aber mein Denken wurde offener, und ich kann stärker in Alternativen denken. Das empfinde ich nun als Bereicherung: Das Berufsdenken habe ich tief in mir, aber die Vorstellung: Was könnte sein? ist befreiend und eine Ergänzung.

In Bewegung gesetzt

So einer also war Nikodemus. Als Oberster fing er an sich zu fragen, ob das, was er macht, eigentlich richtig ist. Er hat sich aus der Gewohnheit herausgewunden und war so weit, sich in Bewegung zu setzen. Zugegeben, er war vorsichtig, denn bei Nacht machte er das. Das kann ich verstehen, denn als Oberster neue Kontakte zu knüpfen, war mutig und konnte seine Existenz infrage stellen. Ganz gleich, wo wir sind: In jeder Lebenssituation ist neues Denken möglich.

Fragend sich selbst infrage stellen – oder: innerhalb der Institution neu denken, dafür bewundere ich ihn. In Gebundenheit eine Vision entwickeln: Er hat ein Stück des Reiches Gottes gesehen. So haben wir auch in der Gegenwart Möglichkeiten und Chancen, unsere Kirche weiterentwickelnd zu denken. Wir müssen uns dazu nicht in der Nacht verstecken, sondern das Reich Gottes zu denken, ist immer wieder nötig, auch am Tag – wie schön!

Unser Autor
Rainer Neumann ist Pfarrer im Ruhestand in Greifswald.

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Dienstag.