Die Gesellschaft stehe vor einem Sprung ins Ungewisse, findet Psychologe Grünewald. Er erklärt in seinem neuen Buch, wie sich Krisen meistern lassen – und warum er für die Einführung eines sozialen Pflichtjahr ist.
Die gute Nachricht ist: Es gibt Hoffnung. Hoffnung, zusammen einen Weg aus all den Krisen und Herausforderungen zu finden, die die deutsche Gesellschaft – und nicht nur die – zur Zeit beschäftigen: Kriege, Migration, KI, Pandemien, Einsamkeit, Inflation und Klimawandel, um nur einiges zu nennen.
Es gebe “eine große brachliegende Sehnsucht nach einer aktivierenden, zukunftsgerichteten und gemeinschaftsstiftenden Handlungsperspektive”, schreibt Psychologe Stephan Grünewald in seinem neuen Buch “Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft”. Es erscheint an diesem Donnerstag. Darin nimmt er, “die kunstvollen Strategien der Selbstbehauptung in einer aus den Fugen geratenen Welt” in den Blick.
Grünewald ist Gründer des Kölner Rheingold-Instituts und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Gefühlslage im Land. Er hat dazu zahlreiche Studien herausgegeben, die er auch der Analyse in seinem neuen Buch zugrunde legt. 20.000 Interviews, die er und seine Mitarbeiter in den vergangenen Jahren geführt haben, sind demnach eingeflossen.
Eine Studie zum Thema Verbundenheit aus diesem Jahr zeige etwa, dass 89 Prozent der Deutschen das Gefühl haben, in einer entzweiten Gesellschaft zu leben, in der die Aggressivität immer weiter zunimmt. Das mache den Menschen Angst. Sie sehnten sich nach Verbundenheit.
Die Menschen spalten demnach angesichts der multiplen Krisen ihre Wirklichkeit auf: einerseits in eine private Welt, die vertraut und überschaubar ist und die man weitestgehend im Griff zu haben glaubt, andererseits in eine äußere Welt, in der die globalen Krisen verortet werden und die als unwandelbar erlebt wird. Man macht es sich zu Hause schön, optimiert sich selbst und bleibt damit in seinem Schneckenhaus.
Dies führe zu einer Krise der sozialen Verbundenheit, “die die Gesellschaft zu entzweien droht”, mahnt Grünewald. Die Menschen kreisten zunehmend um sich selbst und richteten sich in entsprechenden Wohlfühloase ein – sei es mit dem Streamen von Fernsehserien, Sport, Puzzlen, Einkaufen oder Putzen. Sie “rotten sich in ihren soziale Bollwerken zusammen” und verschlössen sich gleichzeitig Neuem gegenüber immer mehr.
Die Gesellschaft stehe vor einem Umbruch, “der zwar Chancen bietet, jedoch häufig erst einmal mit Ängsten verbunden ist”, stellt der Wissenschaftler klar. Problematisch sei, dass die Angst vor diesem Sprung ins Ungewisse “Erlösungssehnsüchte” forciere – manche sähen diese im technologischen Fortschritt und KI. Aber auch diese Hoffnung werde gebremst durch Gefahren, die mit der KI verbunden seien – wie der Verlust von Arbeitsplätzen und vor allem auch “die Angst, dass KI-Systeme im militärischen Sektor eigenständige, unvorhersehbare Entscheidungen treffen, die zu katastrophalen Folgen führen könnte.”
Eine andere Strategie, Ängste zu bekämpfen, sei eine Erlösungslogik Trumpscher Art, so Grünewald. “Nationale Egoismen, einfache Wahrheiten, die Aufteilung der Welt in Gute und Böse und klare Handlungsdirektiven, die einen direkten Durchgriff garantieren, verheißen eine radikale Komplexitätsreduktion und eine grandiose Steigerung der eigenen Wirksamkeit.”
Besonders junge Menschen haben demnach – auch durch die Corona-Zeit ausgelöst – Angst, mit anderen in Kontakt zu treten, so der Autor. Studien belegten, dass sie sich “Tarnkappenstrategien” angeeignet hätten, um sich nicht offen zu ihren Meinungen und Haltungen bekennen zu müssen.
Grünewald plädiert hier sehr konkret etwa für mehr Austausch und Begegnung bereits in der Schule – durch Klassenfahrten, Ausflüge und Feste – und auch für die Einführung eines gesellschaftlichen Pflichtjahres danach. Dies könne die ersehnte Verbundenheit herstellen: “Es eröffnet jungen Menschen einen anderen Blickwinkel auf das Leben in Deutschland. Sie verlassen ihren kleinen Kosmos und kommen mit wildfremden Leuten aus den verschiedensten sozialen Milieus zusammen”, schreibt er. Ihnen werde so bewusst, dass es Menschen gibt, die ganz andere Nöte haben oder aus einem anderen kulturellen Kontext kommen.
Es gehe vor allem darum, die Energie der Bürger so zu nutzen, dass sie gesamtgesellschaftlich gewinnbringend ist, erklärt der Autor. Als positives Beispiel nennt er die Meisterung der Energiekrise – damals hätten Bürger und Staat zusammen an einem Strang gezogen, um durch gemeinsames Energiesparen durch den Winter zu kommen. Das Fazit des Psychologen: Der Sprung ins Ungewisse sei unausweislich – und könne aber gelingen, wenn die Deutschen darauf vertrauten, dass sie “auch im Loslassen und im Sprung verbunden bleiben”, so Grünewald.