Nächstenliebe trotzt Angst

Über die Angst vor Egoismus in diesen paradoxen Zeiten schreibt Tilman Baier. Er ist Pastor und Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.

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Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ aus Hebräer 13, 12-14

Es sind paradoxe Zeiten. Der Blick aus dem Fenster hinter meinem Schreibtisch fällt auf eine sonnenbeschienene, leere Straße. Dort, wo sich sonst im Schatten des Schweriner Doms die Shoppingfreunde und Touristen drängeln, schleicht nun nur ab und zu ein Mensch mit Hund oder einem Einkaufskorb entlang. Alles wirkt wie eingefroren. Und gleichzeitig überschlagen sich die Ereignisse, melden die Medien lawinenartig anschwellende Kranken- und Sterbezahlen.

Angst greift um sich angesichts der unsichtbaren Gefahr. Einschneidende Kürzungen der Bürgerrechte durch den Staat werden erstaunlich einsichtig akzeptiert. Und auch der bewusste, herausfordernde „Tanz auf dem Vulkan“  bei Corona-Partys ist nur ein pubertärer Versuch, mit dieser Angst irgendwie umzugehen.

Immer wieder höre und lese ich, dass nach dieser weltweiten Krise unsere Gesellschaft nicht mehr die bisherige sein wird. Entsolidarisierung durch den Zusammenbruch der Wirtschaftsstrukturen, Gewöhnung an die Allmacht des Staates bei Eingriffen in das persönliche Leben … Für etliche steht die bürgerliche Existenz bereits jetzt auf dem Spiel. Und die Angst steigt weiter, nimmt das Leben in den Griff.

Doch es gibt Menschen, die sich dieser Angst stellen – um anderer Menschen willen. Menschen, die unter dem Einsatz ihrer Gesundheit, ja, ihres Lebens in Krankenhäusern und Pflegeheimen, Lebensmittelläden sowie Bussen und Bahnen weit über ihre Pflicht hinaus arbeiten. Und es gibt die vielen, die freiwillig an Brennpunkten helfen – so wie unsere Kollegin, die derzeit im Urlaub bei der Tafel aushilft.

Ja, wahrscheinlich wird unsere Gesellschaft in ein, zwei Jahren eine andere sein. Aber es liegt auch an uns, wie sie aussehen wird, ob Egoismus oder Nächstenliebe sie bestimmt. Der Schreiber des Hebräerbriefes jedenfalls verknüpft die Suche nach der zukünftigen Heimstatt der Christen mit der Passion, der Leidenschaft Jesu für alle Menschen. Ihn führte dieser Weg ans Kreuz. Und auch für die, die ihm nachfolgen wollen, ist dieser Weg nicht ungefährlich. Aber sie tun es. Das macht mich zuversichtlich.

Unsere Autor
Pastor Tilman Baier ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV

Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.