Musical-Melodram “Emilia Perez” über Banden-Szene in Mexiko

Musical-Melodram um einen mexikanischen Kartell-Boss, der eine Geschlechtsangleichung organisiert, in seinem neuen Leben als Frau aber von der gewaltsamen Vergangenheit eingeholt wird.

Ein Land im Ausverkauf. Auf den Straßen von Mexiko-Stadt sind Lautsprecher-Wagen unterwegs, deren Fahrer Matratzen, Waschmaschinen, Kühlschränke und ähnliches kaufen wollen. Die Jagd nach materiellen Besitztümer ist im Gange. Doch bei den moralischen Wertmaßstäben gibt es nur noch wenig zu holen.

Die Anwältin Rita, die durch die nächtliche Metropole eilt, kennt den Grad der menschlichen Korrumpierbarkeit aus dem Effeff. Sie selber hat daran teil, die Grenze immer noch weiter zu verschieben. Wenn Rita sich in der Eröffnungsszene des Melodrams “Emilia Perez” unmittelbar an die Zuschauer zu richten scheint, stellt sie eine Komplizenschaft mit dem Publikum her und fordert Verständnis auch dort ein, wo sie ihr Tun nur notdürftig mit den zynischen Zwängen ihres Berufsstands rechtfertigen kann.

Denn als Gehilfin in einer Anwaltskanzlei, die Kriminelle aller Art verteidigt, muss sie mit den von ihr verfassten Plädoyers die Freiheit von Drogendealern und Mördern sichern – und kommt trotzdem beruflich nicht vorwärts. Wenn sich je eine Figur für einen Faustischen Pakt aufdrängte, dann Rita.

Tatsächlich bleibt das teuflisch verführerische Angebot nicht lange aus. Der mexikanische Kartell-Boss Manitas del Monte bietet ihr einen Ausweg aus der Sackgasse. Sowohl äußerlich – mit Goldzähnen, Ringen, Tätowierungen – erst recht aber im gewalttätigen Verhalten knüpft er an die Albtraum-(Ersatz-)Vaterfiguren an, die das Werk des französischen Filmemachers Jacques Audiard ausmachen.

Andererseits: War aus Audiards Männerwelten ein Ausbruch bislang nur durch einen grenzüberschreitenden Gewaltakt denkbar, wählt “Emilia Perez” einen unerwarteten, wenn auch radikalen Weg. Manitas eröffnet Rita, dass er eigentlich immer schon eine Frau im falschen Körper gewesen sei und mit seinem Gangsterdasein abschließen wolle. Die gewitzte Anwältin soll nicht nur die weltweite Suche nach dem Arzt für die geschlechtsangleichende Operation durchführen, sondern auch Manitas’ vorgetäuschten Tod in die Wege leiten, von dem selbst seine Frau Jessi und seine zwei Kinder überzeugt sein sollen.

Audiard zieht “Emilia Perez” nicht als reines Gangster-Melodram auf, sondern präsentiert die Geschichte im Rahmen eines Musicals. Schon zum Auftakt greift die Anwältin auf Gesang zurück, um sich vorzustellen, während sie sich, begleitet von Tänzern, über Gassen, durch Restaurants und zwischen Marktständen hindurchbewegt.

Ist der erste Teil des Films noch von dunkler Ausleuchtung und Bildern geprägt, die auch die Überforderung bei Rita widerspiegeln, hellt sich das Geschehen bildlich im zweiten Akt auf. Dem entspricht ein für die Beteiligten vorerst zufriedenstellender Erfolg des ungewöhnlichen Plans: Vier Jahre sind vergangen. Rita ist reichlich belohnt worden und beruflich aufgestiegen, aus Manitas del Monte ist Emilia Perez geworden, die als angebliche Verwandte des für tot erklärten Gangsters ein sorgloses Leben führen will.

Jetzt will Emilia, einmal mehr mit Ritas Hilfe, Frau und Kinder, zwischenzeitlich in die Schweiz abgeschoben, nach Mexiko zurückholen. Doch der Glaube, dass die drei für die vermeintliche Unbekannte ohne Weiteres eine vergleichbare Liebe wie für den Mann respektive Vater empfinden werden, täuscht. Und mit Ablehnung kommt Emilia Perez weiterhin gar nicht gut zurecht.

Befreit von der recht grotesken Männermaske und heiseren Stimme von Manitas, übernimmt zusehends die transsexuelle spanische Darstellerin Karla Sofia Gascon die Führung und die Mehrzahl der Gesangsnummern. Seiner Titelfigur gesteht “Emilia Perez” auch hochemotionale Bekenntnisse zu, etwa, wenn es um die Kinder geht. Überhaupt schöpft Audiard weibliche Perspektiven aus, wo es geht.

Bei aller Experimentierfreude setzt Audiard Gesang und Tanz allerdings nicht ungehemmt ein. Das würde sich auch schlecht mit seiner Absicht vertragen, die Gewalt der mexikanischen Drogenkartelle ungeschönt im Hintergrund des Films mitschwingen zu lassen. Denn die Hauptfigur kann ihre verdrängte gewalttätige Vergangenheit nicht einfach abstreifen. So treten Angehörige von anonym verscharrten Toten, für deren Ermordung Manitas Verantwortung trägt, in das Leben von Emilie. Ein Akt der Buße ist unumgänglich.

Letzten Endes fügt sich auch das Melo-Musical “Emilia Perez” nahtlos in Audiards Filmografie ein, in der Versuche, dem eigenen Schicksal zu entfliehen, noch stets zum Scheitern verurteilt waren. Sogar in diesem opernhaft überhöhten Ambiente können Figuren vielleicht Geschlecht und Namen ändern, nicht aber den seelischen Ballast von ihren Schultern abstreifen. Am Ende wird unweigerlich abgerechnet.